Körper als Kontrollobjekt : Ist TikTok Schuld am 'Ultradünn'-Trend?
Ungefähr ein Jahrzehnt feierte die Modeindustrie größere Größen, sogar Plus Size Models wurden zu Musen. Nun wird wieder gehungert, denn "Heroin Chic is back". Zwei Expertinnen erklären, was TikTok und der gesellschaftliche Backlash damit zu tun haben.

Ungefähr ein Jahrzehnt feierte die Modeindustrie größere Größen, sogar Plus Size Models wurden zu Musen. Nun wird wieder gehungert, denn "Heroin Chic is back". Zwei Expertinnen erklären, was TikTok und der gesellschaftliche Backlash damit zu tun haben.
"Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt“
Mit dieser Ohrfeige für normalgewichtige Frauen kam Supermodel Kate Moss 2009 um die Ecke. Damals wurde Körperkult im Sinne von dünn sein großgeschrieben, Klatschmagazine shamten die Körper von Celebrity-Frauen in Bikinis und Heidi Klum lauerte ihren 'Mädchen' mit dem Maßband auf, um sie auf vermeintlich überschüssige Kurven aufmerksam zu machen.
Wer dachte, dass wir diese Zeiten hinter uns gelassen haben, irrt gewaltig. Denn nicht mal zwanzig Jahre später sind ultradünne Körper wieder en vogue. In ihrem Jahresbericht nannte die "American Society of Plastic Surgeons" den Ballet Body als neuen beliebtesten Look, die "New York Times" erklärte jüngst, wieso auf den Laufstegen der großen Modehäuser "ultra thin" wieder angesagt ist und "Bye-bye booty: Heroin chic is back" schreit eine Titelzeile des Boulevardmagazins "New York Post" regelrecht in die Welt hinaus. Passend dazu wird auf Social Media das "Skinny Girl Mindset" gefeiert.
Think thin! Verlieren wir hier Kilos oder unseren Verstand?
Unter dem Hashtag #skinnytok teilen auf TikTok junge Frauen und Mädchen wie sie schlanker werden – und es bleiben. Selten geht es dabei um Essverbote und schweißtreibende Fitnessübungen, sondern vielmehr um die richtige Einstellung. "Was ich esse, um dünn und gesund zu bleiben" und "Minus fünf Kilo wegen skinny girl mindset" betiteln sie die Videos – und in den Kommentaren tauschen sich Userinnen über ihre Abnehmerfolge, Tipps und Tricks aus. Die Devise lautet: Verinnerliche die Denk- und Lebensweise eines dünnen Menschen, dann purzeln die Kilos auch ohne viel Zutun.
Dieser wiedererstarkte und alleinige Fokus auf junge, dünne, weiße Körper ergebe sich durch mehrere Entwicklungen, erklärt Kulturwissenschaftlerin Dr. Elisabeth Lechner, die an der Universität Wien zu Body Positivity promovierte. "Zum einen durch die Normalisierung von Filtern, digitalen Avataren und Anwendungen künstlicher Intelligenz, die auf Basis von schiefen Datensets und intransparenten Algorithmen die immer selben Normkörper ausspucken und uns suggerieren, unsere analogen Körper wären im Vergleich zu den digital bearbeiteten unzulänglich." Zum anderen durch die weite Verbreitung so genannter "Abnehmspritzen" mit Markennamen wie Ozempic oder Wegovy, so Lechner. "Diese verstärken den Druck dünn zu sein, denn es wird uns eingeredet, das könnte nun ja wirklich jede:r". Zumindest mit dem nötigen Kleingeld …
Sieht man sich die roten Teppiche in Hollywood oder auch hierzulande an, wird schnell klar, die Schrumpfbewegung per Spritze ist ein Ding. Etliche Stars, auch die die vorher für ihre curvy Körper gefeiert wurden, wie Adele und Lizzo, haben sich nahezu halbiert. Kein Wunder, dass der Abnehmwahn der Stars auch der echten Welt eingespritzt wurde und Dünnsein auf Social Media zum neuen Normal geworden ist. Phrasen wie "portion control is key" meint: Kontrolliere deine Portionen!) und "skinny girls don't snack at night" (meint: Keine Snacks!), die einem auf #skinnytok in den Ohren klingeln, erinnern jedenfalls schwer an Kate Moss' Aufsager von vor 15 Jahren.
Gefahr für Körperwahrnehumgsstörungen steigt
Und dass der dünne Körperkult zu einem Riesenproblem werden kann, zeigen erschreckende Zahlen: Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Essstörung – viele davon an Anorexie. "90 Prozent der Betroffenen sind weiblich", sagt Psychologie-Professorin Silja Vocks, die an der Universität Osnabrück zu Körperbild und Essstörungen forscht. Zum einen steige die Anzahl an Neuerkrankungen an – auf 50 Prozent mehr Fälle in den letzten fünf Jahren laut Hochrechnungen der Kaufmännischen Krankenkasse –, zum anderen werde auch das Ersterkrankungsalter immer jünger, so Vocks. Social Media spiele da eine entscheidende Rolle, denn bereits sehr junge Mädchen (und Jungs) konsumieren dort aufs Aussehen bezogene Botschaften. Das triggere Vergleichsprozesse und könne zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen.
Ganz neu ist das nicht. Schon in den 2000er-Jahren gab es so genannte Pro-Ana- und Pro-Mia-Foren, geschlossene Communities, die Essstörungen wie Anorexie und Bulimie verherrlichten und als Lifestyle propagierten. "Heute verbreiten sich Thinspiration-Inhalte unter dem Deckmantel der Selbstermächtigung durch Social Media und werden so einer breiten Masse zugänglich", sagt Vocks. Parallelen zu Pro-Ana/Pro-Mia-Foren sehe sie insofern, dass der dünne Körper eben über alles andere gestellt werde.
Schulungen im Bereich Medienkompetenz halten beide Expertinnen für essenziell. Schließlich beträgt die durchschnittliche Bildschirmzeit von Teenagern laut Statista rund 3,5 Stunden pro Tag. "Jugendliche müssen verstehen, dass Social Media eine Schweinwelt ist, Personen inszenieren sich, verändern ihre Körper und benutzen Filter, im Vergleich kann man da nur schlecht abschneiden", gibt Silja Vocks zu Bedenken. Umso wichtiger sei es, dass Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen und Räume schaffen, in denen sie abseits der Online-Welt mit 'echten' Menschen in Kontakt treten können.
Waren wir nicht schon mal weiter?
Dabei war vor gar nicht allzu langer Zeit 'Realness' auf Instagram und Co. keine große Seltenheit. So erreichte Body Positivity als Gegenbewegung zum damals allgegenwärtigen Schlankheitskult in den 2010er-Jahren ihren Höhepunkt. Pralle Pos und weite Hüften waren keine tolerierte Ausnahme mehr, sondern Aushängeschild. "Überall – in Serien, auf Zeitschriften-Covern, in der Popmusik, in Filmen und der Werbung – waren unterschiedliche Körper zu sehen. Damals schien eine kommerziell verträgliche Sichtbarkeit von unterschiedlichen Körpern zum Industrie-Standard geworden zu sein", erklärt Elisabeth Lechner.
Leider hätten wir eine radikale Inklusion und Akzeptanz aller Körper nie erreicht. "Die positiven Veränderungen betrafen vor allem die Repräsentationsebene, nicht aber die systemischen Ursprünge von Sexismus, Rassismus, Ageismus, Dicken- und Behindertenfeindlichkeit", sagt Lechner. Im Weg stünden die Profitinteressen der Schönheitsindustrie und eine weiße, eurozentrische Vorstellung von Schönheit.
Von Body Positivity, die ursprünglich in der Schwarzen Fat-Acceptance-Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre in den USA wurzelt und mit dem übergeordneten Ziel antrat, Fettfeindlichkeit abzuschaffen und dicke Menschen von Diskriminierung zu befreien, bleibt so heute nicht viel mehr übrig als "empowernde, aber oberflächliche, pastellfarbene Instagram-Kacheln ohne Verbindung zu echtem organisiertem Aktivismus", bestätigt die Kulturwissenschaftlerin.
Social-Media-Bewegungen und der Rechtsruck
Der weibliche Körper als Spiegel der Gesellschaft: Nicht nur verlor Body Positivity ihren Mut, auch die politische Stimmung in der Welt verändert unsere Schönheitsideale – und letztlich unsere Körper. Wir leben in Zeiten eines Backlashs; konservative Werte finden immer mehr Anklang. "Die global erfolgreiche extreme Rechte propagiert nicht nur den schönen Frauenkörper als jung, dünn, weiß und auf allen Ebenen unter Kontrolle (Körperbehaarung und Körperfett, Schminke, Kleidung), sie legt auch fest, wie ein gutes Frauenleben auszusehen hat", erklärt Elisabeth Lechner.
"Schnell werden aus den Ansprüchen an schöne Frauenkörper, Ansprüche an die 'richtige' Art Frau zu sein, das heißt mütterlich, fürsorglich, häuslich. Kontrolle von Frauenkörpern über ihr Aussehen, bedeutet oft auch Kontrolle über ihre Selbstbestimmung und Lebensgestaltung." Eine Gefahr ergibt sich daraus insbesondere für Menschen, die nicht in die binäre Einteilung der Geschlechter passen.
Diese eurozentristische Schönheits-Vorstellung spiegeln auch die #skinnytok girls wider. Unter dem Hashtag zeigen sich fast ausschließlich weiße, junge und natürlich dünne Frauen. Erschreckend ist dabei, dass einige von ihnen gerade mal 12 oder 13 Jahre jung sind.
Krisen, Konflikte und Kontrolle
Eben diese jungen Menschen wachsen in unsicheren Zeiten heran. Multiple Krisen, Naturkatastrophen und politische Konflikte können Gefühle von Angst und Ungewissheit hervorrufen. Das Bedürfnis nach Kontrolle steigt – wenn die im Außen nicht zu erreichen ist, dann zumindest über den eigenen Körper. "Also fasten wir, gehen quasi-religiös ins Gym, formen, enthaaren und schminken unsere Körper", bestätigt Lechner. "Eigentlich wird über die Ansprüche an unser Äußeres, das wir nie erreichen können, aber Kontrolle über uns ausgeübt."
Wir könnten die Zeit, in der wir uns mit unserer Optik beschäftigen ja sonst mit Dingen verbringen, die uns wirklich guttun – oder die sogar gesellschaftspolitisch relevant sind. Das Patriarchat bevorzugt 'ausgehungerte', schwache Frauen, die sich in vorgefertigte Rollenbilder fügen. Höchste Zeit also, Skinny-Girl-Mantren und Diätpläne gegen ein lautes "Riot, don't diet" auszutauschen.