Journal Freitag, 9. Mai 2025 – Kühle Sonne, Abschied von Margot Friedländer

Nach dem Weckerklingeln noch ein wenig besinnlich im Bett gelegen, alles gut. Meine Zeitung lag nicht vor der Wohnungstür, steckte nicht im Briefkasten bei der Haustür – aber als ich am Hoftor nachsah, stand davor das Radl mit Anhänger des Zeitungsboten – er kam gerade mit dem Aufzug wieder herunter. Ich freute mich, ihn mal […]

May 10, 2025 - 08:38
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Journal Freitag, 9. Mai 2025 – Kühle Sonne, Abschied von Margot Friedländer

Nach dem Weckerklingeln noch ein wenig besinnlich im Bett gelegen, alles gut.

Meine Zeitung lag nicht vor der Wohnungstür, steckte nicht im Briefkasten bei der Haustür – aber als ich am Hoftor nachsah, stand davor das Radl mit Anhänger des Zeitungsboten – er kam gerade mit dem Aufzug wieder herunter. Ich freute mich, ihn mal persönlich zu treffen und wechselte ein paar Worte mit dem Herrn: Er sorgte sich sehr, ob mich meine Exemplare auch erreicht hätten.

Es war weiterhin kühl, doch die Wolken am Himmel lockerten wie angekündigt auf.

Am Straßenrand vor Bäumen und einer großen freien Fläche stehen über ein Dutzend Elektroroller und Leihräder, die die Zufahrt verstellen

Theresienwiese zu Zeiten des Frühlingsfests.

Jetzt aber wirklich und eindeutig: Die Mauersegler sind da, ich sah sie über mein Wohnviertel flitzen und übers Westend.

Emsiger Arbeitsvormittag, während es draußen immer sonniger wurde.

Mittagscappuccino im Westend, auf dem Weg saukalt im Schatten, richtig warm im Sonnenschein.

Nahaufnahme einer Kastanienblüte vor unscharfem Blätterhintergrund

Verzaubert von der Opulenz der Kastanienblüte.

Aufsicht auf eine dunkle Holzfläche, sonnenbeschienen, auf der ein Cappuccino steht, links daneben angeschnitten weißes Jeansbein, das in einem weiß-blauen Turnschuh endet

Guter Cappuccino.

Auf einer ockerfarbenen Hauswand zwischen zwei Fenstern ein minimalistisches Graffiti: wenige schwarze Linien deuten ein Gesicht an und einen erhobenen Zeigefinger

Zu Mittag heimische Bio-Lageräpfel, überraschend aromatisch, ein dickes selbstgebackenes Roggenmischbrot mit Frischkäse.

Planen, Organisieren, Lesen am Nachmittag.

Ich sah, dass meine weiße Jeans nach fünfmal Tragen doch in die Wäsche musste: Ich hatte sie so lange ohne Befleckung getragen, dass sie einen leisen Graubeige-Schleier entwickelte. Vielleicht hat mich unversehens doch dieses Erwachsensein erwischt. (Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß.)

Pünktlicher Feierabend, um in kühler Sonne auf Besorgung und Lebensmitteleinkauf zu gehen. Erfolg im kleinen Teeladen gleich hinterm Sendlinger Tor: Habemus Blechdosem!

Auf einer schwarzen Cerankochplatte stehen eine Herdkanne aus Edelstahl eine mattmetallene Dose, ein mit Einmachgummi umwickeltes angebrochenes Paket Espressopulver

Schlichtes Design, gut einrastender Deckel, ohne ganz luftdicht zu schließen: Behälter für das gemahlene Espressopulver von ein paar Tagen.

Daheim war Herr Kaltmamsell noch in einer beruflichen Telefonkonferenz, ich turnte eine halbe Stunde Yoga-Gymnastik – nachdem ich den angetrockneten Waldmeister in eine Flasche Weißwein gesteckt hatte, der ihn eine gute Stunde lang aromatisierte.

Als wir beide bereit dafür waren, gab es Maibowle, diesmal aufgegossen mit halbtrockenem Sekt, den guten süßen Moscato hatte ich diesmal nicht bekommen.

Balkontisch in schräger Abendsonne, die sich in zwei gefüllten Sektschalen bricht, links daneben ein Blumentöpfchen mit Waldmeister, hinter der Balkonbrüstung Bäume in hellem Licht

Reines Schmuckbild, auf dem Balkon war es deutlich zu kühl fürs Draußensitzen.

Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell Entrecôte wieder nach der neuen Garmethode (erst langsam im Ofen bei niedriger Temperatur, dann in der Pfanne gebraten), dazu gab es reichlich Brokkoli mit Mandelblättern. Zum Nachtisch die ersten Erdbeeren der Saison, die ich in Bio-Qualität und wunderbar duftend für horrendes Geld gekauft hatte. Sie waren es wert. Danach noch Schokolade.

Über die oberee rechte Ecke eines weißen Schranks ranken sich grüne Zweige und große Blätter, die die drei Kabel und Lampenschirme einer Hängelampe verschieben

Die Efeutute rangelt seit vielen Monaten mit einer Deckenleuchte – ich lasse sie und verfolge das Ausbreiten gespannt.

§

Margot Friedländer ist gestorben. (Aufmacher der gestrigen 20-Uhr-Tagesschau, das begrüße ich.) Es gibt hin und wieder Momente, in denen ich sogar als zutiefst Ungläubige wünsche, ich könnte einen Segen aussprechen – dieser war einer. Friedländers menschliche Größe war so selten.
“Man muss es doch wenigstens versuchen” ist, was mir besonders von ihr bleibt.

Erst kürzlich las ich eine Folge zum 80. Jahretag des Kriegsendes in der Süddeutschen über ein Kapitel des Grauens, das ich bis dahin noch nicht so gut kannte (die Süddeutsche hatte und hat in allen Ressorts viele ausführlich und tief recherchierte Artikel zum Jahrestag der Befreiung, markiert mit eigenem Logo): Ein doppelseitiger Artikel berichtete über die Todesmärsche aus KZ in Bayern (€ – wieder bin ich der Meinung, dass bei manchen Themen die möglichst große Reichweite wichtiger ist als die Gegenfinanzierung; in diesem Fall ist der Artikel das Geld eines Tages-Abos wert).
“Bayerns dunkelstes Kapitel”

Ein Interview mit dem Historiker Daniel Blatman nahm mir die Illusion, dass die bayerische Bevölkerung spätestens beim Anblick der Todesmärsche mit ihren elenden, verhungernden Gestalten vor ihrer Haustür zu Bewusstsein kam, endlich umdachte und Erbarmen zeigte (€).
“‘Die Todesmärsche brachten den Völkermord direkt vor die Haustür gewöhnlicher Deutscher'”.

Dabei hätte mir klar sein müssen, wie tief und lang die Nazi-Propaganda von “Abschaum” und “Ungeziefer” wirkte, das ausgemerzt werden müsse.

Diese Situation löste eine schreckliche Welle der Gewalt von Zivilisten aus, die bis dahin nicht aktiv am Genozid beteiligt waren. Getrieben von der Angst vor den „Untermenschen“ aus dem Osten, ausgemergelten, verhungernden und sterbenden Menschen, und besorgt wegen der bevorstehenden Besetzung durch die Alliierten organisierten sie brutale Jagden nach geflüchteten Gefangenen. Sie töteten viele an Ort und Stelle und verübten in einigen Fällen regelrechte Massaker. Es gab zwar viele Fälle, in denen empathische Zivilisten Gefangene versteckten, bis die Alliierten kamen. Wie viele das waren, ist schwer zu ermitteln. Aber feststeht, dass Zurückweisung, Verrat und sogar Mord an geflüchteten Gefangenen durch Zivilisten charakteristisch waren in diesen chaotischen letzten Monaten und Tagen vor dem Ende des Reiches.

(…)

Die Todesmärsche zu erforschen erfordert, sich mit der dunklen und unbequemen Wahrheit auseinanderzusetzen, dass ganz gewöhnliche Deutsche, Feuerwehrleute, Polizisten, Bürgermeister, ältere Menschen und Angehörige der Hitlerjugend zu Tätern wurden. Sie waren aber keine Massenmörder und wurden nie vor Gericht gestellt wie KZ-Kommandanten. Auch lokale Beamte und Parteifunktionäre, die die Ermordung von Dutzenden Menschen in den Wäldern begleiteten, wurden nie zur Verantwortung gezogen. Selbst Historiker haben sich nicht sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt, weil diese letzten Monate des NS-Regimes immer unter dem Blickwinkel des allgemeinen Kollapses betrachtet wurden.

Margot Friedländers Appell “Seid Menschen” ist alles andere als banal.