Sängerin Jennifer Weist: "Wütende Frauen stören wirklich"
Als Sängerin der Band Jennifer Rostock polarisierte und schockierte sie. Heute macht sie unter dem Namen "Yeanniver" solo Musik und Kunst. Und sie hat ein Buch geschrieben. Kürzlich erschien ihre Autobiografie "Nackt – Mein Leben zwischen den Zeilen", in der sie über ihre harte Kindheit und Jugend, sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch schreibt. Mit BRIGITTE spricht sie über ihre Erlebnissen, was sie antreibt und über weibliche Wut.

Als Sängerin der Band Jennifer Rostock polarisierte und schockierte sie. Heute macht sie unter dem Namen "Yeanniver" solo Musik und Kunst. Und sie hat ein Buch geschrieben. Kürzlich erschien ihre Autobiografie "Nackt – Mein Leben zwischen den Zeilen", in der sie über ihre harte Kindheit und Jugend, sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch schreibt. Mit BRIGITTE spricht sie über ihre Erlebnissen, was sie antreibt und über weibliche Wut.
BRIGITTE: In deinem Buch geht es um Erwachsenwerden, sexualisierte Gewalt, weibliche Scham, Traumata, Beziehung, Tabubrüche und es ist sehr authentisch. Wie hat es sich im Schreibprozess angefühlt, dich so komplett nackt zu machen?
Jennifer Weist: Meine Musik basiert schon immer auf persönlichen Geschichten, lässt jedoch einen gewissen Interpretationsspielraum für die Hörer:innen. Der fällt beim Lesen meines Buches nun weg, ich schreibe ganz direkt und ungeschönt über mein Leben. Deshalb mache ich mich damit noch verletzlicher als in den letzten 20 Jahren Musikbusiness. Ich teile schöne Momente genauso wie ernste, schmerzhafte und traumatische Erlebnisse. Ich schreibe über meine Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern, dem Weg zum Erfolg mit meiner Band Jennifer Rostock, aber auch über Drogenerfahrungen, Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt, die ich bereits im Kindesalter erlebt habe.
Du schreibst von einer Szene im jungen Teenageralter. Eine Freundin hatte dir von einem sexuellen Übergriff erzählt und das wiederum hat offenbar alte Erinnerungen bei dir geweckt.
Ja, ein Bekannter meiner Mutter hat mich vergewaltigt, als ich fünf Jahre alt war. Doch ich habe das Erlebte jahrelang verdrängt und geschwiegen, bis ich 2020 anfing, Songs für mein erstes Album als Solokünstlerin zu schreiben. Als ich dann wenig später die Anfrage für das Buch bekam, wusste ich, dass dort auch über dieses dunkle Kapitel meines Lebens sprechen möchte.
Wie hat sich das angefühlt?
Über meine Vergewaltigung zu schreiben, hatte für mich einen therapeutischen Charakter. Ich musste mit meinem Kopf und meinem Herzen nochmal dahin zurück, wo alles passiert ist. Ich musste das Erlebte nochmal durchleben, um die damit verbundene Scham, die Schuld und die Angst zu überwinden. Um das Messer aus der Wunde zu ziehen, damit diese endlich heilen kann. Für mich und meine Verarbeitung, aber auch für alle anderen Menschen, die solche oder ähnliche Erfahrungen machen mussten. Um zu sagen: Ihr seid nicht allein! Die Schuld tragen nicht die Opfer, sondern ganz allein die Täter:innen.
Du bist erst 38, doch in deinem Buch finden sich viele traumatische Erlebnisse. Welche einschneidenden Momente haben dich besonders geprägt?
Alle Momente, die ich schildere, sind prägend für mich gewesen. Ob ich von meinen Erfahrungen mit Drogen, sexualisierter Gewalt oder das Aufwachsen ohne Vater spreche. Ich war erst 6, als sich meine Mutter von ihm trennte, danach sah ich ihn nie wieder. Seine Abwesenheit hinterließ tiefe Wunden, natürlich emotionaler, aber vor allem finanzieller Natur. Wir hatten jahrelang nur 50 D-Mark im Monat für unsere Verpflegung zur Verfügung. Meine Mutter hatte drei Niedriglohnjobs gleichzeitig, arbeitete Tag und Nacht, um uns durchzubringen, bis sie körperlich und psychisch am Ende war.
Die Anfangsjahre mit Jennifer Rostock waren außerdem sehr prägend für mich. Hierbei geht es nicht nur um Sex, Drugs and Rock ´n´Roll, sondern auch um meine Erfahrungen mit Sexismus und Machtmissbrauch. Es gab außerdem eine Beziehung, in der ich psychische und körperliche Gewalt erfahren habe, durch die ich aber auch gelernt habe, dass die monogame Zweierbeziehung nicht die Beziehungsform ist, in der ich leben möchte.
Du schreibst von deinen eigenen Erfahrungen mit Machtmissbrauch in der Musikindustrie, vor allem in der Anfangszeit mit Jennifer Rostock. Jetzt gab es in letzter Zeit einige große Skandale, beispielsweise um Rammstein. Hat sich inzwischen etwas geändert?
Nein. Es gab keinerlei Konsequenzen für die Täter. Die Cancel Culture von der immer gesprochen wird, gibt es so nicht. Weiße cis Männer kommen immer noch mit allem durch, was sie tun. Opfer werden mundtot gemacht, die Täter haben genug Macht und Geld und kommen fast immer mit einem blauen Auge davon.
Dabei bist du eine Frau, die sich nicht so leicht zum Schweigen bringen lässt, ganz im Gegenteil.
Ich bin seit 20 Jahren im Musikgeschäft und dadurch schon immer Menschen ausgesetzt, die mich bewerten für das, was ich bin und was ich tue. Ich habe eine starke Meinung und vertrete Werte wie Toleranz, Gleichberechtigung und Solidarität. Ich bin politisch und gesellschaftskritisch, sowohl in meiner Musik als auch in den sozialen Medien. Ich bin polyamor, will nicht heiraten, keine Kinder bekommen. Ich bin Kifferin, Feministin und eine linksversiffte Fotze. Ich biete sehr viel Angriffsfläche für Kritik jeglicher Art. Und natürlich müsste ich nicht öffentlich über die damit verbundenen Themen sprechen, doch ich möchte meine Privilegien, die ich als weiße cis-Frau ohne Behinderung und ohne Migrationshintergrund habe, meine Stimme und meine Reichweite nutzen, um positive Veränderungen zu bewirkten.
Würdest du sagen, du warst der Zeit womöglich einen Schritt voraus, was feministische Themen betrifft?
Das glaube ich nicht. Alle Feminist*innen vor uns haben den Weg für die nachkommenden Generationen geebnet. Vielleicht war ich eine von diesen Frauen in unserer Generation. Aber vor mir waren es Frauen wie Madonna, Patti Smith oder Grace Jones. Bis ich 25 war, habe ich mich kaum mit feministischen Themen beschäftigt. Vieles, was ich getan habe, war mehr Provokation als ein feministischer Akt. Ich habe in den letzten 10 Jahren dank anderer Feministinnen sehr viel dazu gelernt und darf es auch heute noch.
Siehst du dich selbst als Sprachrohr?
Ich stelle mich der Verantwortung, die man als in der Öffentlichkeit stehende Person nun mal hat – ob man will oder nicht. Ich möchte ein Sprachrohr für diejenigen sein, die von unserem System unterdrückt werden, jedoch habe ich als weiße cis-Frau ohne Behinderung oder Migrationshintergrund viele Privilegien, die andere nicht haben. Diesen Menschen möchte ich eher eine Plattform bieten, als für sie zu sprechen.
Aber du bist stellvertretend wütend für Frauen. Dein aktueller Song ist in den sozialen Medien eine Hymne für alle "Angry Women". Dabei findet weibliche Wut in unserer Gesellschaft kaum statt.
Wütende Frauen werden als störend empfunden und sie stören wirklich. Sie stören die bestehende Ordnung, patriarchale Strukturen und Machtgefälle. Ihre Wut wird jedoch häufig unangemessen oder übertrieben dargestellt, um die dahinter liegenden Probleme nicht ansprechen zu müssen und die Frau wieder in die für sie vorgesehene Rolle zu pressen. Doch jeden zweiten Tag passiert ein Femizid, es gibt Gesetze, die darüber bestimmen, was eine Frau mit ihrem Körper machen darf und was nicht. Frauen leisten immer noch den Großteil an Care Arbeit und bekommen für die gleiche Arbeit weniger Geld. Wir sind zu Recht wütend über strukturelle Diskriminierung, fehlende Gleichberechtigung und Unterdrückung und wir werden es auch bleiben, bis sich endlich etwas ändert.
Gefühle, die viele Frauen kennen, liest man die Kommentare auf deinem Insta-Kanal.
Ich habe das Gefühl, sehr viele Frauen sind auch gerade in ihrer Angry Woman Ära. Das habe ich noch nie so deutlich gespürt wie gerade. Und das liegt natürlich auch an dem enormen Rechtsruck, der gerade nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt sichtbar ist. Unsere Politik liefert zu einfache Antworten auf komplexe Themen und kreiert ein Feindbild, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Dabei kämpfen immer die Personen am stärksten, die unter den Unterdrückungsstrukturen leiden. Eigentlich müssen das diejenigen übernehmen, die nicht betroffen sind. Männer müssen für die Rechte von Frauen einstehen, weiße Menschen für die Rechte von schwarzen Menschen, nicht queere Menschen für die Rechte von queeren Menschen.
Was können Männer deiner Meinung nach für uns Frauen tun?
Erstmal: Sich selbst hinterfragen. Männer sollten sich fragen, ob sie in ihrem Leben schonmal etwas Übergriffiges gesagt oder getan haben. Wenn sie feststellen, dass das so ist, sollten sie die Verantwortung dafür übernehmen, dafür sorgen, dass sowas nicht nochmal passieren kann. Sie könnten außerdem mit ihrer Familie, ihrem Freund:innenkreis oder ihren Arbeitskolleg:innen über sexualisierte Gewalt und andere Unterdrückungsformen sprechen. Sie sollten sich einmischen, wenn sie misogyne, ableistische, rassistische oder queerfeindliche Aussagen hören oder übergriffiges Verhalten beobachten. Niemand kennt komischerweise einen Täter, obwohl jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben eine Form von Gewalt erlebt.
Also ziemlich sicher auch eine Frau, die diese Männer kennen.
Da muss man einfach mal einen anderen Blick bekommen. Das darf nicht immer an den Betroffenen hängenbleiben, darüber aufzuklären. Deshalb würde ich mir wünschen, dass nicht nur Frauen und queere Menschen mein Buch lesen, sondern vor allem weiße cis Männer. Einfach, um sich auch mit Lebensrealitäten außerhalb ihrer eigenen zu beschäftigen und Diskriminierungsformen verstehen zu können, von denen sie selbst nicht betroffen sind.
Wenn man sich für Feminismus stark macht, bekommt man ganz schön viel Gegenwind, was motiviert dich?
Mit jedem offen misogynen, rassistischen, queerfeindlichen Kommentar werde ich immer wütender. Denn solche Kommentare zeigen mir immer wieder, wie unsere Gesellschaft tickt und was sich noch verändern muss, damit wir alle irgendwann ein freies und selbstbestimmtes Leben führen können. Deshalb sind solche Kommentare für mich auch eine Art Antreiber, niemals mit dem aufzuhören, was ich tue. Ich spüre aber auch eine starke Verbundenheit mit Frauen und anderen marginalisierten oder mehrfach marginalisierten Gruppen, die sich vereinen, um Menschen, die solche Kommentare verfassen, in ihre Schranken verweisen. Ich tanke ganz viel Kraft durch Mitstreiter:innen und Kompliz:innen, die im Kampf gegen patriarchale Strukturen an meiner Seite stehen.