Interview: "Machen wir uns zur Hauptfigur unserer zweiten Lebenshälfte!"

Wie geht das eigentlich, dieses Älterwerden, weiß das jemand? Im Gespräch mit BRIGITTE erklärt Dr. Petra Kiedaisch, Herausgeberin eines „Ratgebers für die Zweite Pubertät“, welche Fragen uns auf den Weg helfen.

Apr 6, 2025 - 11:57
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Interview: "Machen wir uns zur Hauptfigur unserer zweiten Lebenshälfte!"

Wie geht das eigentlich, dieses Älterwerden, weiß das jemand? Im Gespräch mit BRIGITTE erklärt Dr. Petra Kiedaisch, Herausgeberin eines „Ratgebers für die Zweite Pubertät“, welche Fragen uns auf den Weg helfen.

Sie kennen das, wenn man im Leben an einen Kipppunkt gelangt. Wie war das bei Ihnen?

Dr. Petra Kiedaisch: Es passierte, als ich Ende meiner Vierziger war. Einerseits war die erste Lebenshälfte bisher sehr erfolgreich verlaufen – Ehe, Beruf, Familie, Gesundheit. Aber dann kippte es. Ich hatte einen Bandscheibenvorfall, bemerkte die Wechseljahre, das Älterwerden wurde sichtbar und dann wurden beide Eltern zu Pflegefällen. Das war der Punkt, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben ratlos war. Ich spürte das Älterwerden auf einmal ganz konkret und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich habe gemerkt, dass es vielen in meinem Umfeld so ging und nach einem Begriff dafür gesucht.

Und den fanden Sie mit "Die Zweite Pubertät".

Beide Pubertäten sind Zäsuren, die uns in eine andere Zeit katapultieren. Bei der ersten werden wir vom Kind zum Teenager und in der zweiten vom jungen zum mittelalten Erwachsenen. Die zweite Parallele ist, dass wir es in beiden Fällen mit einem hormonellen Umbruch zu tun haben. In der ersten Pubertät kommen die Hormone, überschwemmen uns und stellen unseren Körper auf den Kopf. In der zweiten gehen die Hormone wieder und stellen noch einmal alles auf den Kopf. Und die dritte Parallele, die ich fand, war, dass beide Pubertäten uns auf uns selbst zurückführen und wir uns fragen müssen: 'Wo stehe ich jetzt?'

So wird eine Bestandsaufnahme fällig?

Genau. In der zweiten Pubertät fragen wir uns 'Mit wem bin ich hierher gegangen, will ich mit dem weitergehen?' Sei es der Partner, der Beruf, seien es die Freunde. Es ist die Zeit, sich neu aufzustellen.

Darin steckt ganz schön viel Herausforderung. Auch eine Chance?

Meine Lebenshaltung ist grundoptimistisch. Ich finde, wir haben es mit einer Zeit der Möglichkeiten zu tun. Also nicht mit einer Midlife-Crisis sondern einer Midlife-Challenge. In allen Lebensbereichen kann ich mich fragen, 'Kann ich etwas tun?'. Im Vergleich mit unserer Eltern- oder Großelterngeneration haben wir das Privileg, uns mit unserer Persönlichkeit und unserem Leben so auseinanderzusetzen, dass wir es noch einmal ganz neu anpacken können und wirklich eine zweite Lebenshälfte gestalten können.

Ganz einfach ist das sicher nicht.

Das Älterwerden kann verunsichern, am Selbstbewusstsein knabbern. Sich einzugestehen, dass man nicht mehr zu den Jüngeren, sondern eher zu den Älteren gehört. Es sind große emotionale Erschütterungen, wenn es zu Trennungen kommt, etwa weil die Kinder aus dem Haus gehen oder die Beziehung nicht mehr glücklich ist, wenn ich meine zu pflegenden Eltern begleite, sie vielleicht auch leiden und sterben sehen muss. Aber im Vergleich zu den älteren Generationen haben wir gelernt, offener mit diesen Dingen umzugehen, zur Bewältigung darüber zu sprechen und wenn ich das nicht schaffe, auf Beratung zurückzugreifen.

Haben Sie deshalb in dem Buch Fachleute aus ihrem jeweiligen Gebiet selbst sprechen lassen?

Ich merkte, das Thema braucht Expertise. Deshalb habe ich diese verschiedenen Fachleute gebeten zu erklären, woran wir denken sollten. Welche Fragen wir uns stellen sollten, um dieses Älterwerden positiv zu gestalten.

Dazu gehören ja auch körperliche Veränderungen. 

Auch da haben wir eine Vielzahl von Möglichkeiten, die es vorher nicht gab. Ich spreche gar nicht nur von der Lesebrille oder kosmetischen Mitteln. Im Vergleich zu früher kann ich viele Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, durch die ich zum Beispiel auf Knochenschwund oder ungesundes Gewicht hingewiesen werde und ich dann erfahre, wie ich mit Muskelaufbau oder gesunder Ernährung gegensteuern kann. Besonders erleichternd finde ich auch, dass Frauen mit Wechseljahresbeschwerden nicht mehr so leiden müssen. Es ist eine immense Erleichterung, über Dinge wie Scheidentrockenheit sprechen zu können, was früher noch ein Tabu war. Heute kommt Feuchtcremewerbung vor der Tagesschau.

Trotzdem können diese Veränderungen nerven. Wie schafft man es denn, nicht zu hadern?

Petra Kiedaisch
Dr. phil. Petra Kiedaisch, Verlegerin und psychologischer Coach
© Jan Reich
Ich habe auch am Anfang damit gehadert und Jahre gebraucht, das Älterwerden zu akzeptieren. Ich kann nur jeder und jedem empfehlen, den Austausch mit anderen zu suchen. Am besten mit Gleichaltrigen, mit Freunden und Freundinnen und zu hören, was passiert bei dir? Festzustellen, dass ich nicht alleine bin, dass nicht nur ich älter werde, graue Haare bekomme oder als Mann Potenzprobleme habe – das gibt schon Kraft.

Besteht dann nicht die Gefahr, dass man gemeinsam ins Jammern kommt und die positive Ausrichtung verliert?

Klar kann man auch mal jammern. Aber man darf nicht an den Punkt kommen, nur noch zu jammern. Die Psychologin im Buch rät, das Älterwerden zum Anlass zu nehmen, sein Leben als Regisseurin neu in die Hand zu nehmen. Sich zur Hauptfigur seiner zweiten Lebenshälfte zu machen. Als ob man einen neuen Job annimmt. Das gibt einem eine Aufgabe, eine Perspektive und man kommt aus diesem passiven Erdulden heraus.

Wie kann das konkret aussehen?

Es hilft fürs Umdenken, sich noch einmal zu überlegen 'Was macht mir wirklich Spaß?'. Also raus aus der Routine. Sich fragen, was gibt es außerhalb dessen, was ich schon kenne und tagtäglich mache. Vielleicht ist es ein Ehrenamt oder ein neues Hobby. Mit der Bestätigung kommen der Spaß und die Erfüllung, weil da etwas ist, das mich neu denken lässt und auch wieder neugierig aufs Leben schauen lässt.

Wir brauchen also eine Kraftquelle fürs Älterwerden?

Eine Kraftquelle ist auf jeden Fall ein Faktor unserer Resilienz im Alter. Das kann der Glaube sein, Spiritualität, die Natur. Aber sie ist praktisch nur das Benzin für den Motor, der uns antreibt. Und der sind die Ziele oder Werte, die ich erreichen will. Denn das, worauf man hinarbeitet und wodurch man sich definiert, kann durchaus etwas anderes sein als in der ersten Lebenshälfte.

Dann geht darum, das Alter nicht nur mit sich geschehen zu lassen.

Genau. Der Philosoph sagt im Buch dazu: Sich nicht vergreisen lassen.

Wir haben, statistisch gesehen, ja auch locker noch 40 Jahre vor uns.

Mindestens! Aber jetzt können wir noch vieles tun, was später vielleicht nicht mehr geht. Im Medizin-Kapitel steht zum Beispiel, dass wir Fehlentwicklungen jetzt noch aufhalten können. Und die Ernährungsmedizinerin sagt, wir haben hier wie in der Botanik die Möglichkeit zur Nachreifung. Das heißt, wir können mit unserer Ernährung und der Qualität der Lebensmittel beeinflussen, wie sich unser Körper im Alter verhält. Diese 40 Jahre und vielleicht mehr sind sicherlich nicht 40 komplett unbeschwerte Jahre. Aber es sind viele, viele Jahre, die wir noch gestalten können.

Das heißt, es ist noch nicht zu spät, aber wir sollten auch nicht länger warten.

Jetzt ist eine wichtige Zeit! Die Juristen und die Experten für Pflege und Finanzen sagen, wenn ich jetzt mit 50 nicht überlege, wie ich mit 70 Vorsorge und Finanzplanung aufgestellt habe, ist es mit 70 eben zu spät. Man muss jetzt überlegen, wie finanziere ich das Alter, wie regele ich die wichtigsten Dokumente, also Generalvollmacht, Testament, Patientenverfügung.

Cover 45+ Ein Ratgeber für die Zweite Pubertät
„45+ Ein Ratgeber für die Zweite Pubertät“ (Hirzel, 2024, 24 Euro): Fachleute aus Medizin, Ernährung, Psychologie, Philosophie, Religion, Pflege, Recht und Finanzen erklären, wie wir konkret ins Handeln kommen.
Sie lassen in Ihrem Buch die Expertinnen und Experten am Ende jeden Kapitels eine Checkliste für ihr jeweiliges Fachgebiet erstellen. Wenn Sie alle Erkenntnisse daraus zu einer einzigen Liste zusammenfassen müssten, ganz kurz und knapp, wie sähe die aus?

Für mich besteht die Kernsubstanz aus vier Fragen. Die erste lautet: 'Wo stehe ich?' Das ist eine Inventur von Körper, Geist und Seele. Die zweite Frage ist: 'Wo will ich hin?' Also Wünsche, Werte und Ziele für die zweite Lebenshälfte formulieren. Die dritte Frage lautet dann: 'Was will ich dafür tun oder ändern?' Nicht, was könnte/sollte ich tun – machen!

Und die letzte Frage?

'Wer hilft mir dabei, was ist dafür nötig?' Das wären wieder der Freundeskreis, enge Vertraute, externe Experten oder aber so etwas wie der Glaube.

Sie zitieren in Ihrem Buch die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev: "Älterwerden kann eine Art Heilmittel sein. Man lernt, wer man ist und was man will." Ich verstehe das so, als gehörten verschiedene Lektionen dazu, die noch auf uns warten.

Für mich ist das eine Art persönliches Hausaufgabenbuch. Ich habe jetzt die erste Phase der Akzeptanz hinter mir. Dann habe ich mit meinem Mann diesen Kipppunkt gemeinsam aufgearbeitet. Wir beide werden zusammen älter. Und jetzt schaue ich, was passiert die nächsten sieben Jahre, bis ich 65 bin. Es muss nicht alles auf einmal passieren, ich muss nicht alles auf einmal können oder wissen. Sicher werde ich die nächsten 20 Jahre weitere Antworten finden. Schritt für Schritt.