Der dritte Ort: Was bedeutet er und wo findet man ihn?
Ein Platz, an dem man sich wohlfühlen kann, ohne konsumieren zu müssen, jenseits von Arbeit und Familie. Was bedeutet dieser "Dritte Ort" – und wie findet man ihn?

Ein Platz, an dem man sich wohlfühlen kann, ohne konsumieren zu müssen, jenseits von Arbeit und Familie. Was bedeutet dieser "Dritte Ort" – und wie findet man ihn?
Mir fällt kein einziger Ort ein – außer meinem Rommé-Club, den ich mit drei Freunden betreibe. Wir treffen uns alle paar Monate reihum, es gibt immer etwas zu essen, zu trinken, zu quatschen und dann wird gezockt. Aber selbst das kostet: einen Cent pro Punkt der Karten auf der Hand. Meistens gehe ich als dritte Siegerin hervor, fast immer mit zehn Euro auf der Uhr. Und wenn man als Gastgeberin an der Reihe ist, wird’s noch kostspieliger. Aber es macht großen Spaß.
Wohin mit uns?
Bis vor ein paar Wochen hatte ich noch nie davon gehört, aber plötzlich scheinen ihn alle verzweifelt zu suchen: den "Dritten Ort". Den Begriff hat der US-amerikanische Soziologe Ray Oldenburg eigentlich schon vor über 25 Jahren geprägt. In seinem Werk "The Great Good Place" stellt er sein Konzept vor: der Erste Ort diene dem Familien-, der Zweite Ort dem Arbeitsleben, und der Dritte Ort soll ein zusätzlicher sein, der Ausgleich bietet und Treffpunkt für nachbarschaftliche Gemeinschaft ist. Man könnte ihn auch als zweite Heimat bezeichnen. Auf YouTube und TikTok hat sich der Begriff "The Third Place" plötzlich rasant verbreitet. Es scheint eine große Sehnsucht danach zu geben.
Dafür verantwortlich sind die natürlichen Feinde des Dritten Ortes: Kapitalismus, Technologie und Social Media. Alles Dinge, die eher verhindern, dass Menschen sich im echten Leben miteinander verbinden, jenseits des Konsumierens. Und das ist auch schon das Hauptproblem des Dritten Ortes, denn was kann man heutzutage schon groß unternehmen, um sich als Individuum mit der Gesellschaft zu vereinen, ohne dafür zu bezahlen oder am Handy zu kleben?
Mangel an Dritten Orten gab es schon immer. Ich erinnere mich, dass sich die älteren Leute im Dorf, aus dem ich komme, darüber aufregten, dass sich die Jugendlichen mit ihren Mopeds am Samstagabend mit Bierflaschen in der Hand an der Bushaltestelle trafen zum Abhängen. Sie taten es dennoch, wenn das JUZ mal wieder geschlossen hatte, sei es auf dem Dorfplatz, vorm Kiosk oder der Kirche. Vielleicht ist das heutige Cornern oder Chillen vor den Spätis das urbane Pendant dazu.
Unendlich Optionen
Bloß, wohin gehen Menschen jenseits der Achtzehn, wenn sie Gemeinschaft suchen, die ihnen kostenmäßig nicht die Haare vom Kopf frisst? Für Kinder ist der Dritte Ort häufig auf dem Spielplatz, beim Kung-Fu oder im Kindergarten (oder gilt das als Arbeitsstelle?) – aber wo ist er für Erwachsene? Beim Yoga, Ballett, bei Starbucks? Im Chor, Ehrenamt, Freibad, Theater, Schrebergarten? In der Kneipe? Beim Sport?
Manchmal sehe ich Männer (warum eigentlich immer nur Männer?) im Park Boule spielen. Ich glaube, dass sie sich über das Spiel mit den Kugeln kennengelernt haben, es ist keine fixe Gruppe, alle können mitmachen, man kann kommen und gehen. Vermutlich gibt es nicht mal so was wie eine Absprache. Wenn es Wetter und Zeit zulassen, schaut man eben mal vorbei auf dem Schotterplatz der Grünanlage. Kostet ja nichts. Anders als Mitgliedschaften in Tennisvereinen oder Yogastudios. Manchmal setze ich mich bei "Planten un Blomen", einem großen Park mitten in Hamburg, in den Apothekergarten und beobachte, dass das auch andere so machen: sich mit einem Buch dort unter einer Akazie niederlassen, gucken, lesen. Aber man bleibt dabei allein.
Bibliotheken hingegen gelten als ein klassischer Dritter Ort. Auf der Website des Deutschen Bibliotheksverbands e. V. lese ich: "Im Zuge der Digitalisierung und des Verlusts ihres Informationsmonopols entwickeln sie sich weg von der reinen Medienausleihe (...) hin zu einem lebendigen Erlebnisraum mit hoher Aufenthaltsqualität und vielfältigen Möglichkeiten, sich auszutauschen und weiterzubilden." Sie hätten sich gewandelt zum Makerspace, Repair-Café, zur Medienwerkstatt. Hmmh, vielleicht sollte ich das mal ausprobieren, aber dann wiederum sofort der Gedanke: Ich habe doch schon genug Bücher, Freundinnen – und nichts zu reparieren. Der Unterschied zwischen dem eigenen Freundeskreis und einem Dritten Ort ist allerdings auch die Neutralität: Die oder der Einzelne hat keine Verantwortung gegenüber den anderen, man kann kommen, sich begegnen und wieder ungezwungen auseinandergehen. Kaum möglich und wünschenswert in einer echten Freundschaft, die ja auch davon lebt, dass man genau das übernimmt: Verantwortung, wie die Zusammenkünfte ablaufen und sich anfühlen. Aber eben genau das, was ich bei den Boule-Spielenden beobachtet habe. Auch der inklusive Charakter stimmt hier, der soziale Status ist offenbar nur von geringer oder gar keiner Bedeutung.
Hereinspaziert!
Ein Dritter Ort ist noch durch anderes gekennzeichnet: keine Zugangsvoraussetzungen und gute Erreichbarkeit. Solange ich auch darüber nachdenke – mir fällt kaum eine Stätte ein, auf die all das zutrifft. Außer vielleicht die nächstgelegene Tanke. Aber zu der wiederum passt ein anderes entscheidendes Merkmal nicht: die offene, positive und gelöste Atmosphäre.
Bei Ray Oldenburg heißt es auch "The Third Place is a Leveler", was bedeuten soll: Alle sind gleich. "Menschen könnten sich an einem Dritten Ort unabhängig von ihrem sozialen Status und ihrer Rolle in der Familie oder am Arbeitsplatz unvoreingenommen begegnen." Spätestens an diesem Punkt kommt Kritik in die spielerische Stimmung, denn nicht jeder Mensch hat die Kohle, um einen Dritten Ort aufzusuchen. Dritte Orte sind in der Realität selten unabhängig vom sozialen Status zu besuchen. Viele können sich schlicht keinen Abstecher zum Ausgleich leisten, sei es der Eintritt ins Freibad, die Mitgliedschaft in einem Gym oder Stammgast zu sein in einem Café, wo der Grande Latte Dingsbums so viel kostet wie ein Wocheneinkauf.
Für Besucher soll sich ein Dritter Ort wie ein zweites Zuhause oder eine zweite Familie anfühlen. Also das, was in jeder Sitcom Mittelpunkt der Sendung ist, egal ob in der "Lindenstraße" (der Grieche), bei "Sex and the City" (das Deli) oder bei "Friends" (Central Perk Coffee Shop). Doof nur, dass es dort selten Kaffee und Kuchen, höchstens vielleicht mal einen Ouzo aufs Haus, gibt. Ein Freund, dem ich von der These des "Third Place" erzählt hatte, stellte kürzlich die Frage, ob nicht auch einfach mein Sofa oder der Balkon der Dritte Ort sein kann. Ich glaube, genau das ist das Dilemma, in dem wir als Gesellschaft stecken: zu lange, zu allein draufgehockt und gedaddelt.
Vielleicht steckt in der Renaissance der "Third Place"-These ganz viel Hoffnung und Chance, uns daran zu erinnern, warum wir ausgerechnet auf der Erde gelandet sind: um uns zu verbinden mit anderen menschlichen Wesen – statt buckelig in ein Handy zu starren, als hätten wir einen verfluchten Sprung in der Schüssel. So gesehen ist mein Rommé-Club und ein Cent pro Punkt auf der Hand vielleicht mehr wert als Gold.