Expertinnentipps: So bringst du dein überlastetes Nervensystem zur Ruhe

Schmerzen, dauererschöpft, nervös – und niemand findet den Grund? Schuld kann ein überlastetes Nervensystem sein, weiß die Physiotherapeutin Julia Wohlfarth.

Apr 26, 2025 - 11:27
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Expertinnentipps: So bringst du dein überlastetes Nervensystem zur Ruhe

Schmerzen, dauererschöpft, nervös – und niemand findet den Grund? Schuld kann ein überlastetes Nervensystem sein, weiß die Physiotherapeutin Julia Wohlfarth.

BRIGITTE: Manche Leute laufen von Arzt zu Arzt, weil sie Schmerzen haben, schlapp oder unruhig sind – ohne dass eine Diagnose gefunden wird.

Julia Wohlfahrt: Ja, das kenne ich von vielen Patient:innen und auch von mir. Selbst wenn die körperliche Ursache des Schmerzes eigentlich längst geheilt ist, kann er trotzdem noch da sein oder durch Stress oder eine Emotion wieder ausgelöst werden. Er ist dann chronisch, und dabei spielt das Nervensystem eine große Rolle. Oft ist es sehr frustrierend, wenn die Schulmedizin nichts Organisches findet.

Viele Menschen mit chronischen Schmerzen wie Rücken- oder Nackenbeschwerden oder chronischer Erschöpfung sind verzweifelt, weil sie sich alleingelassen fühlen. Wenn man im MRT oder auf Röntgenbildern nichts sieht, dann tun viele Ärzt:innen das als psychosomatische Beschwerden ab. Und man wird nach Hause geschickt mit dem Tipp: Reduzieren Sie mal Ihren Stress, gehen Sie öfter spazieren, ernähren Sie sich gesund. Das sind ja keine schlechten Ratschläge, aber es ist zu wenig.

Mit der Diagnose psychosomatische Beschwerden beginnt es eigentlich erst. Wenn kein akuter Bandscheibenvorfall oder eingeklemmter Nerv vorliegt, ist das ja was Tolles, jetzt können wir mit unserem ganzen Körper, mit dem Nervensystem arbeiten, weil es keine Einschränkungen gibt. Nur: Diese Art von Betreuung gibt es in Deutschland noch nicht.

Somatische Übungen zur Behandlung des Nervensystems sind ja gerade ein Trend. Sie selbst haben das Konzept "Somatic Healing" entwickelt.

Das Prinzip besteht darin, durch körperliche Übungen positiv auf Nervensystem und Gedanken zu wirken und darüber chronische Schmerzen zu reduzieren. Die Übungen beruhigen zunächst das Gehirn, sodass es sich wieder sicher fühlt und nicht auf scheinbare Gefahren mit Symptomen reagiert – denn das ist es, was bei chronischen Beschwerden passiert. Das Schmerz- und Körpergedächtnis verändert sich durch die Übungen langfristig, das Stresstoleranzfenster vergrößert sich.

Wieso fühlt sich das Gehirn denn nicht sicher?

Jeder Stress, jede Angst, jedes Trauma hinterlässt eine Spur in unserem Nervensystem. Wenn unser Gehirn dann eine ähnliche Situation wittert, reagiert es mit Schmerz, Blockaden oder Verspannungen, um uns zu schützen. Das ist aber natürlich nicht immer hilfreich.

Was dann: Stress raus?

Theoretisch ja, aber in der Praxis ist das oft nicht so leicht. Kinder kann man nicht einfach wegschicken, Arbeit nicht einfach ignorieren. Natürlich würde ich immer vorschlagen zu fragen: Welche akute Belastung kannst du rausnehmen? Aber oft steckt da innere Arbeit dahinter, wie hohe Ansprüche oder Grübeleien. Es dauert, daran zu arbeiten. Und Stress ist dazu noch sehr individuell: Es gibt zwei Personen, die von außen gesehen dasselbe Leben führen, aber den einen stresst es und die andere Person nicht. Das heißt, es ist sehr wichtig, sich in Stresssituationen gut selbst regulieren zu können.

Und das bedeutet für jede von uns etwas anderes?

Es gibt nicht die eine Lösung oder die eine Übung für alle. Manche sprechen besser auf Atemübungen an, manche visualisieren gerne, andere machen Körperübungen, um die Anspannung abzuschütteln. Das muss jede für sich selbst rausfinden, indem man beobachtet: Wie ging es mir vorher, wie geht es mir nachher, wie geht es mir, wenn ich das zum Beispiel ein paar Wochen täglich mache?

Somatische Übungen sind also eine Art Erste-Hilfe-Maßnahme?

Sie sind sowohl eine kurzfristige Selbsthilfetechnik, aber langfristig lernt der Körper darüber, sich wieder selbst zu regulieren. Es werden neue neuronale Verbindungen geknüpft. Das nennt sich Neuroplastizität. Oder anders: Mein Körper erinnert sich an den Schmerz, er ist abgespeichert. 

Wenn ich lerne, dass nicht jede Situation eine potenzielle Gefahr ist für meinen Körper, indem ich mich regelmäßig reguliere, kann das Schmerzgedächtnis auf Dauer umprogrammiert werden. Das kann sich aber über Wochen bis Monate, manchmal über Jahre hinziehen. Und natürlich ersetzt es keine Therapie. Wenn ich schwere Traumata erlebt habe und dadurch Panikattacken habe, brauche ich professionelle therapeutische Hilfe. Somatisches Heilen ist eine schöne Begleitung, ein Werkzeug zur Selbsthilfe.

Nehmen chronischer Stress und unspezifische Schmerzen in unserer Gesellschaft zu?

Ja, auf jeden Fall – durch unseren Lebenswandel, die Dauerverfügbarkeit, die sozialen Medien. Viele Menschen haben verlernt, sich zu entspannen. Sie kommen nicht mehr damit klar, zu meditieren oder in Ruhe zu reflektieren, sondern müssen sich nebenbei immer mit etwas beschäftigen. Oder sie haben das Gefühl, produktiv sein zu müssen – etwas für sich zu tun, gehört nicht dazu. 

Ich beobachte, dass gerade Frauen bei der Selbstfürsorge sparen, weil es wichtiger ist, noch zu putzen, noch einkaufen zu gehen. Das Ergebnis: Erschöpfung und innerliche Unruhe. Oft ist es dann einfacher, am Handy zu sein, dann kommt es zu diesen schnellen Dopaminausstößen, genau wie beim Essen: die schnelle Belohnung.

Wem würden Sie somatische Übungen empfehlen?

Allen mit chronischen Beschwerden, die länger als drei Monate da sind und schon im Nervensystem abgespeichert sind. Bei einem ständigen Gefühl von Überreiztheit oder Erschöpfung, bei dauerhaften Nacken- oder Kieferverspannungen. Auch bei Schwindel oder Tinnitus kann es helfen. Wenn es keine organischen Ursachen gibt, würde ich es auf jeden Fall ausprobieren. Es sind tolle Werkzeuge, um sich in unangenehmen Situationen zu beruhigen.

Cortisol ist ein großes Thema bei Social Media und wird dort oft verteufelt. Oder ist doch was dran?

Da wird viel Falsches verbreitet. Cortisol ist ein Stresshormon, das früher für uns überlebensnotwendig war, wenn ein Raubtier vor uns stand. Dann schüttet der Körper Adrenalin und Noradrenalin aus, damit die Herzfrequenz steigt, die Atmung schneller wird und die Muskeln besser durchblutet werden – damit wir bereit sind, zu kämpfen oder zu fliehen. Cortisol wird etwas später ausgeschüttet, es erhöht den Blutzucker, damit wir mehr Energie zur Verfügung haben. Es macht uns fokussierter und konzentrierter. Nur: Früher waren das keine dauerhaften Zustände, danach wurde das Cortisol wieder abgebaut.

 Heutzutage haben wir oft dauerhaften Stress und kommen gar nicht mehr in die Entspannung, um die Stresshormone wieder abzubauen. Und das erhöht das Risiko für mehrere Krankheiten. Aber: Das Problem ist nicht das Cortisol an sich, sondern unser Lebensstil, der uns dazu bringt, dass das Cortisol dauerhaft zu hoch ist.

Was empfehlen Sie da?

Cortisol können wir mit vielen Dingen beeinflussen. Zum Beispiel: Indem wir regelmäßig essen und dabei Proteine und Fette vor den komplexen Kohlenhydraten zu uns nehmen, um den Blutzuckerspiegel konstant zu halten. Indem wir den Schlaf optimieren, weil Cortisol unser Aufwachhormon ist. Das bedeutet: zwei Stunden vor dem Ins-Bett-Gehen keine elektronischen Geräte mehr, kein Koffein nach 14 Uhr. Und durch regelmäßige Bewegung.

Somatic Healing für Einsteiger:innen

Nervensystem-Check-in: Um sich besser wahrzunehmen

Lege, stelle oder setze dich bequem hin. Spüre deinen Körper, beobachte den Atem. Und nimm wahr: Wie viel Energie habe ich? Bin ich entspannt, unruhig oder überfordert? Wo fühle ich mich fest oder verspannt? Nimm all deine Empfindungen nur wahr, ohne sie zu bewerten. Bei Überforderung fokussierst du dich wieder auf den Atem und lenkst ihn bewusst in Brust und Bauch.

Somatisches Schütteln: Um Spannung und Stress abzubauen

Wippe im Stehen die Knie, gern zu Musik. Wie fühlt sich die Energie im Körper an? Dann schüttelst du intuitiv gleichzeitig oder nacheinander mehrere Bereiche deines Körpers, so, wie es dir guttut. Den Oberkörper, indem du dich von einem Bein auf das andere verlagerst und die Arme dabei mitschlenkern lässt; schüttele auch die lockeren Hände und die Unterarme. Stelle dir dabei vor, dass du den Stress durch die Hände herausschüttelst. 

Jetzt Oberkörper und Hüfte in alle Richtungen schütteln und dabei stampfen, stell dir vor, du würdest mit jedem Stampfen Stress, Wut und Frust in die Erde ableiten. Schüttele dich wild, der ganze Körper führt. Zum Ende hin langsamer werden, dann mit der Ausatmung den Oberkörper hängen lassen und mit der Einatmung wieder aufrichten. Wiederhole das etwa drei- bis fünfmal.

Butterfly Hug: Um sich selbst zu regulieren

Lege, stelle oder setze dich bequem hin, und lege die Hände überkreuzt auf deine Oberarme. Nun klopfst du sanft mit deinen Händen, sodass es angenehm ist, und nimmst dabei deine körperlichen und emotionalen Empfindungen wahr, ohne sie zu bewerten. Wenn es genug ist, spürst du deinen Körper, den Atem. Und öffnest langsam wieder die Augen.