Fürsorgekrise: "Viele Menschen bekommen nicht die Zuwendung, die sie brauchen"

Ohne Care-Arbeit gäbe es keine Wirtschaft, keine Jobs, keinen Wohlstand. Trotzdem bekommen wir für das Kümmern kaum Ressourcen. Wie wir das ändern können, weiß die dänische Gleichstellungsexpertin Emma Holten.

Apr 17, 2025 - 18:03
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Fürsorgekrise: "Viele Menschen bekommen nicht die Zuwendung, die sie brauchen"

Ohne Care-Arbeit gäbe es keine Wirtschaft, keine Jobs, keinen Wohlstand. Trotzdem bekommen wir für das Kümmern kaum Ressourcen. Wie wir das ändern können, weiß die dänische Gleichstellungsexpertin Emma Holten.

BRIGITTE: Ihr Buch "Unter Wert" macht deutlich: Familienarbeit ist unverzichtbar. Ohne Fürsorge müsste ein Baby sterben, Arbeitskräfte gäbe es auch keine. Trotzdem soll sie irgendwie nebenbei erledigt werden, am liebsten kostenlos von Frauen. Woher kommt diese mangelnde Wertschätzung? 

Emma Holten: Die Wirtschaft ist die mächtigste Sprache der Politik und sie bemisst Werte ausschließlich mit Zahlen. Der Wert von Care-Arbeit ist mit Mathematik aber nicht zu berechnen – und wenn etwas keinen Preis hat, kann man es günstig bekommen. Zumal es immer Kräfte gab, die darauf drängten, diese Arbeit unsichtbar zu machen. Denn sobald man Familienarbeit ans Licht holt, beginnt ein Diskurs, in dem Frauen sagen: Das, was ich tue, ist wichtig und deshalb brauche ich Zeit und Ressourcen dafür.  

Wie könnte man den Wert von Care-Arbeit denn dann ermitteln, um sie angemessen wertschätzen oder gar vergüten zu können?  

Wir müssen in der Politik endlich darüber reden, was wir für wichtig halten: Wollen wir mehr mit unseren Kindern zusammen sein oder mehr arbeiten? Möchten wir unsere Eltern zu Hause pflegen? Glauben wir, dass Menschen mit Behinderung ein gutes Leben führen sollten? Das Problem ist, dass es in der gesamten EU nur eine einzige Vision von gutem Leben gibt: mehr Produktivität, mehr Arbeit, mehr Konsum. Und das auf Kosten all der Dinge, deren Benefit nicht in Zahlen gemessen werden kann, wie Zeit mit der Familie, Bildung, Kunst, Muße, Ruhe, Entspannung, Schönheit. 

Sie fordern einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel, eine "feministische Ökonomie". Wie könnte die aussehen?  

In der Wirtschaft haben wir kaum Worte dafür, was es braucht, damit Menschen ein gesundes und glückliches Leben führen. Daher wünsche ich mir eine Ökonomie, die von feministischer Wirtschaftsanalyse inspiriert ist: Sie versteht, wie wichtig es ist, dass man sich um Menschen kümmert, dass sie gute Beziehungen haben, gutes Essen, ein schönes Leben. Diese Ziele müssen wir priorisieren und ernst nehmen, denn sie sind für alle wichtig, unabhängig vom Geschlecht. 

Sie sprechen von einer Fürsorgekrise, da wir sowohl in der privaten als auch in der beruflichen Pflegearbeit immer weniger Zeit füreinander haben.

Viele Menschen bekommen nicht die Zuwendung, die sie brauchen. Sie fühlen sich entfremdet voneinander und erleben einen Mangel an Selbstwertgefühl. Doch sie haben keine Sprache dafür, sie sitzen in ihrer Wohnung und sagen: "Ich habe alles. Ich habe eine schöne Küche, ich habe zwei schöne Kinder, aber ich bin unglücklich." Die Folgen sind Depressionen, Angstzustände, Stress, Faschismus. Das hat damit zu tun, dass die Zeit und der Raum für Fürsorge immer weiter minimiert werden, denn sie wird wirtschaftlich als Ausgabe und nicht als Investition betrachtet. Ich glaube, zurzeit radikalisieren sich viele Menschen, weil sie sich andere Visionen wünschen, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Leider sind nur sehr wenige Politiker:innen bereit, dieses Gespräch zu führen – doch was sonst ist der Sinn von Politik? 

Was würde unser Leben denn besser machen? 

Wir brauchen mehr Zeit, über die wir als Individuen verfügen können. Wir haben Zeit für die Arbeit und etwas Zeit für unsere Kinder, das war‘s. Was wir zusätzlich brauchen, ist ein dritter Raum, über den wir die volle Kontrolle haben. Er könnte uns Lebensfreude, Entspannung, Kreativität und die Energie geben, über die Frage nachzudenken: Wie wollen wir leben? 

Besonders Mütter zerreißen sich zwischen Job und Familie. Was kam eigentlich zuerst: Der Feminismus mit dem Wunsch nach weiblicher Unabhängigkeit oder der Hunger der Wirtschaft nach Arbeitskräften?  

Tatsächlich gibt es hier eine Art Allianz zwischen Wirtschaft und Feminismus, denn beide wollen dasselbe: dass Frauen arbeiten. Das Problem ist, dass alle sich bemüht haben, das Leben von Frauen dem der Männer anzugleichen. Man hat nie gefragt: Wie glücklich sind diese Männer eigentlich? Was würde passieren, wenn das Leben der Männer mehr wie das der Frauen aussehe? Und könnte das Leben von Frauen vielleicht sogar ein Ideal für die Gesellschaft sein? 

In ihrem Buch "Unter Wert: Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt" beschreibt Emma Holten die Mechanismen, die dafür gesorgt haben, dass Care-Arbeit politisch und wirtschaftlich nie von Bedeutung war – und zeigt, was wir verlieren, wenn wir nichts daran ändern (dtv, 22 Euro)
In ihrem Buch "Unter Wert: Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt" beschreibt Emma Holten die Mechanismen, die dafür gesorgt haben, dass Care-Arbeit politisch und wirtschaftlich nie von Bedeutung war – und zeigt, was wir verlieren, wenn wir nichts daran ändern (dtv, 22 Euro)
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Könnte es denn?

Für mich ist eine Teilzeit-Krankenpflegerin, die Zeit mit ihren Kindern hat, näher dran an einem guten Leben, als ein Mann, der 60 Stunden pro Woche für ein Unternehmen arbeitet, das etwas produziert, was die Leute gar nicht brauchen. Das ist ein riesiger Verlust von Sinnhaftigkeit, denn nur weil etwas Gewinn abwirft, heißt das noch lange nicht, dass es einen Wert schafft. Trotzdem wurden Frauen dazu ermutigt, sich wie Männer zu verhalten. In meiner Jugend wurde mir ständig gesagt: arbeite, verdiene Geld, mach Karriere. 

Diese Ratschläge kenne ich auch.

Seit Frauen diesen Rat beherzigen, haben wir allerdings ein neues Problem: die Fruchtbarkeitskrise. Denn die Wirtschaft will, dass wir Kinder bekommen. Sie will aber nicht, dass wir Zeit mit ihnen verbringen, denn wir sollen genauso viel arbeiten wie Männer. In diesem Paradoxon zu leben, ist für viele Frauen und Männer sehr schmerzhaft. Das Problem kann nur gelöst werden, indem wir alle weniger arbeiten. Doch weil Freizeit von der Wirtschaft als Zeitverschwendung angesehen wird, scheint dieses Ziel unerreichbar. Das ist es aber nicht.

Oft kommt dann die Frage "Wie soll Wirtschaft funktionieren, wenn alle nur noch Teilzeit arbeiten?"
Diese Frage geht davon aus, dass Arbeit Werte schafft und Freizeit Werte zerstört. Daher möchte ich eine Gegenfrage stellen: Warum ist Geld eigentlich die einzige Möglichkeit, unsere Ressourcen zu messen? Unsere Länder sind heute viel reicher, produktiver und technologisch fortschrittlicher als noch vor 30 Jahren. Das sollten wir nutzen.