"Little Treats Culture": Das gönn ich mir jetzt trotzdem!

Die Eigentumswohnung? Unerreichbar. Ein überteuerter Matcha Latte? Jederzeit drin. In einer Welt voller Unsicherheiten trösten sich viele mit kleinen Belohnungen zwischendurch – die "Little Treats Culture". Doch können Mini-Freuden wirklich langfristig trösten? Oder ersetzen wir echtes Glück immer häufiger durch Konsum?

May 2, 2025 - 18:23
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"Little Treats Culture": Das gönn ich mir jetzt trotzdem!

Die Eigentumswohnung? Unerreichbar. Ein überteuerter Matcha Latte? Jederzeit drin. In einer Welt voller Unsicherheiten trösten sich viele mit kleinen Belohnungen zwischendurch – die "Little Treats Culture". Doch können Mini-Freuden wirklich langfristig trösten? Oder ersetzen wir echtes Glück immer häufiger durch Konsum?

Stress im Job, Chaos zu Hause und dazu noch eine saftige Steuernachzahlung. Wie gut, dass ein Licht am Ende des Tunnels lockt: der überteuerte Chai Latte aus dem fancy Coffeeshop um die Ecke – den gönn ich mir jetzt einfach. Obwohl im Büro reichlich gratis Heißgetränke verfügbar sind und ich dieses Jahr sogar auf den Sommerurlaub verzichte. Aber, hey? Man muss sich ja irgendwie bei Laune halten. Kurzer Tapetenwechsel, ein kleiner Plausch mit dem Barista – er kennt schon meinen Namen – und schon gehe ich erfrischt und deutlich motivierter ans Werk.

Und ich bin nicht allein. Unzählige User:innen bestätigen bei TikTok und Co., dass sie sich selbst mit kleinen Freuden bestechen müssen, um die grundlegenden Pflichten des Erwachsenenlebens zu bewältigen – Wäsche waschen, Arzttermine, Dienstmails beantworten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Gilt nicht mehr. Heute motiviert und belohnt man sich lieber parallel.

Dekadent? Nö, lebensbejahend.

In einer Welt voller Krisen, Kriege und steigender Preise wird diese neue Form der Selbstfürsorge immer bedeutsamer: Kleine Belohnungen liefern schnelle Befriedigung, wenn große Lebensträume unerreichbar erscheinen. Durch Pandemie, Krieg vor der Haustür und Klimakrise haben wir schließlich gelernt, dass nichts sicher ist. Und vieles, das früher selbstverständlich war – etwa der Kauf von Wohneigentum – ist für viele passé. "Für Durchschnittsverdiener ist die Chance auf Wohneigentum heute gleich null", erklärt Matthias Günther vom Pestel-Institut. Eine Folge: Immer mehr Menschen kündigen ihren Bausparvertrag oder kürzen den ETF-Sparplan, um sich sofort etwas Kleineres zu gönnen.

Die Logik ist vielleicht nicht vernünftig, aber simpel: Wenn ich Tausende von Euros spare, weil ich nicht verreise, kann ich mir stattdessen ohne Probleme eine Auszeit im Day-Spa oder einen Restaurantbesuch gönnen. Kleine Fluchten statt großer Pläne – das scheint der Vibe im Jahr 2025 zu sein.

Negatives mit Genuss ausblenden

Ein Artikel in der "New York Times" deutet diese "Little Treats Culture" als Reaktion auf das "anhaltende Gefühl der Hilflosigkeit und Trauer" während der Pandemie. Und heute eben in Zeiten der Rezession. Mini-Freuden geben uns ein Stück Kontrolle zurück – in einer Zeit, in der langfristige Sicherheit für viele kaum erreichbar scheint. Kenn' ich. Neulich im Supermarkt – ich wollte eigentlich nur Waschmittel – landeten nach einem langen Arbeitstag auch Lidschatten, Frozen Yoghurt und Delikatessen-Chips im Wagen. Ein fairer Deal, wie ich fand, um meine Nerven zu pampern.

Kleine Belohnungen machen produktiver 

Passend dazu: Die Kaufkraft der Deutschen ist trotz Rezession leicht gestiegen – laut GfK um zwei Prozent. Der sogenannte "Lipstick Index" erklärt, warum: In schwierigen Zeiten greifen Konsument:innen eher zu kleinen, erschwinglichen Luxusgütern wie Lippenstift oder Kaffee. Und posten das Ergebnis gleich noch auf Social Media – Likes inklusive.

Deshalb sind Cafés und Restaurants bei gutem Wetter rappelvoll. Ein Aperol Spritz geht irgendwie immer – und er wirkt. "Little Treats" können produktives Verhalten verstärken, erklärte Dr. David Spiegel vom "Center on Stress and Health" der Stanford University gegenüber dem US-Magazin "Self".

Was steckt wirklich hinter dem Bedürfnis? 

Doch wenn wir den Impuls verspüren, uns etwas zu gönnen, kann es helfen, kurz innezuhalten: Was will ich mir gerade wirklich geben – und was will ich vermeiden? "Manchmal braucht man vielleicht einfach eine Umarmung, einen aufmerksamen Zuhörer oder etwas Anleitung", sagt Dr. Spiegel. "Das Koffein, der Zucker oder der Supermarkt, nach dem Sie sich sehnen, werden Ihre Ängste nach einer besonders hektischen Arbeitswoche oder einem heftigen Streit wahrscheinlich nicht lindern."

Eine ständige Belohnungskultur kann auch dazu führen, dass wir irgendwann regelrecht süchtig nach externen Anreizen werden – und irgendwann gehen auch sie ins Geld. Dabei müssen Mini-Freuden gar nichts kosten: Ein Spaziergang an der frischen Luft ist häufig viel beglückender als ein neuer Lippenstift.

Und wenn’s doch mal ein Iced Matcha Latte für acht Euro sein muss, als leiser Aufstand gegen ein Leben, das uns manchmal mehr abverlangt, als wir geben können – dann ist das auch okay.