Experte erklärt: "Viele Hautprobleme entstehen nicht, weil zu wenig, sondern weil zu viel gemacht wird"
Wir sind nie allein, Billionen unsichtbarer Mitbewohner besiedeln unsere Oberfläche und bilden das Mikrobiom. Gut so! Wie es uns schützt, nährt und die Gesundheit fördert, verraten wir hier.

Wir sind nie allein, Billionen unsichtbarer Mitbewohner besiedeln unsere Oberfläche und bilden das Mikrobiom. Gut so! Wie es uns schützt, nährt und die Gesundheit fördert, verraten wir hier.
Für sie sind wir die Welt: Auf unserem größten Organ, der Haut, tummeln sich Millionen von Bakterien, Einzellern, Pilzen und Viren pro Quadratzentimeter und bilden ein ausgeklügeltes Ökosystem. Ein gesundes Hautmikrobiom unterstützt das Immunsystem, reguliert Entzündungen, hilft Feuchtigkeit zu speichern, den pH-Wert zu stabilisieren und schützt gegen Umwelteinflüsse. "Das Mikrobiom der Haut, auch als Hautflora bekannt, stärkt auch die Hautbarriere, indem es mit Zellen interagiert und die Produktion von Lipiden sowie anderen essenziellen Substanzen fördert", weiß Dr. Henrike Neuhoff, Leiterin des Bereichs Wissenschaft der Marke Lavera.
Lebenslange Begleiter
Neugeborene kommen mit nahezu steriler Haut auf die Welt, doch schon bei der Geburt beginnt ihre Hautreise. Während einer vaginalen Entbindung gelangen sie mit den Mikroben der mütterlichen Schleimhaut in Kontakt – ein Willkommensgruß der Natur, der ihr Immunsystem auf das Leben außerhalb des Mutterleibs vorbereitet. Kaiserschnittkinder durchlaufen diesen ersten mikrobiellen Tauchgang anders. "Ihre Hautflora muss sich in den ersten Lebenswochen auf anderen Wegen entwickeln. Spannenderweise zeigen Studien, dass Kaiserschnittkinder häufiger unter Allergien und Hauterkrankungen wie Neurodermitis leiden. Dies könnte auf Unterschiede in der frühen mikrobiellen Besiedlung zurückzuführen sein", so Mikrobiom-Forscherin Dr. Theda Bartolomaeus. Auch unsere Umgebung formt das Mikrobiom. Kinder auf dem Land, die draußen spielen, Tiere anfassen oder durch den Matsch toben, sammeln eine größere mikrobielle Vielfalt als Stadt-Kids. Haustiere sind für die Hautflora auch ein echter Fitness-Boost. Und mit unserem Partner teilen wir nicht nur Bett und Alltag, sondern eben auch Mikroben. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Hautprobleme wie Akne allein durch eine gemeinsame Umgebung oder Berührungen übertragen, ist relativ gering, aber nicht ausgeschlossen", erklärt Dr. Neuhoff. Das Akne-Bakterium ist zwar an der Entstehung von Akne beteiligt, aber kein typischer ansteckender Keim – fast jeder Mensch trägt es auf der Haut. Für die Entwicklung von Akne spielen vor allem Hormone eine entscheidende Rolle. Anders sieht es bei Hauterkrankungen wie Pilzinfektionen aus. Hier können krankmachende Keime nicht nur durch inniges Kuscheln, sondern auch über geteilte Handtücher oder Bettwäsche übertragen werden.
Wenn das Gleichgewicht kippt – und was hilft
Ein gesundes Mikrobiom funktioniert wie eine gut eingespielte Wohngemeinschaft: Jeder Bewohner hat seine Aufgabe – bis plötzlich Unruhe aufkommt. "Im Winter setzt der ständige Wechsel zwischen kalter Außenluft und trockener Heizungsluft der Hautbarriere zu. Sie verliert Feuchtigkeit, wird durchlässiger – und das Mikrobiom gerät ins Wanken", erklärt Dr. Neuhoff. Auch chronischer Stress, Schadstoffe wie Mikroplastik und Pestizide, starke UV-Strahlung und heißes Duschen stören das fragile Gleichgewicht. Plötzlich reagiert die Haut empfindlicher, juckt, rötet sich oder entwickelt Unreinheiten. "Viele Hautprobleme entstehen nicht, weil zu wenig, sondern weil zu viel gemacht wird", sagt Dr. Mana Witt, Expertin für Ästhetik und Longevity. Wer ständig mit Peelings, scharfen Reinigern oder reizenden Wirkstoffen hantiert, nimmt der Haut oft Fette und schwächt ihre Widerstandskraft. Gerade aggressive Tenside und Säuren wie AHA, BHA oder hochkonzentrierte Retinoide können das Mikrobiom durcheinanderbringen.
© Kseniya Ovchinnikova
Doch unsere Haut ist ein Überlebenskünstler – wenn man sie in Ruhe lässt. "Ist das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht geraten, hilft es, eine Pause von reizenden Inhaltsstoffen einzulegen. Die Haut reguliert sich oft ganz von selbst – es dauert meist zwischen zwei und sechs Wochen, bis sich das Gleichgewicht wieder einstellt", so Dr. Neuhoff. Auch sanfte Pflege mit einem leicht sauren pH-Wert zwischen 4,5 und 5,5 kann helfen. Lipide und hauteigene Inhaltsstoffe wie Ceramide, Squalan, Glycerin und natürliche Öle helfen, der Haut das zurückzugeben, was ihr fehlt. Prä-, Pro- und Postbiotika stärken das Hautmilieu, weil sie selbst Bakterien oder deren Nebenprodukte enthalten, beziehungsweise die guten Bakterien nähren. Mit viel Geduld kann man die Hautflora also wirklich umprogrammieren. "Es erfordert aber Zeit, konsequente Pflege und eine gezielte Anpassung des Lebensstils – denn das Mikrobiom der Haut ist relativ stabil", so Dr. Neuhoff.
Gesunde Haut beginnt auf dem Teller
Auch die Pflege von innen spielt eine wichtige Rolle. Die enge Verbindung zwischen Darm und Haut, die Darm-Haut-Achse, zeigt, wie stark die innere Balance das äußere Erscheinungsbild beeinflusst. "Ein Ungleichgewicht der Darmflora kann Entzündungen im Körper fördern – und das zeigt sich auch auf der Haut", betont Dr. Witt. Besonders Menschen mit Neurodermitis oder Rosazea sollten ihre Darmflora in Balance halten. "Entscheidend ist Vielfalt auf dem Teller: Ballaststoffe, gesunde Fette und wenig Zucker sind essenziell für ein stabiles Mikrobiom", erklärt Dr. Witt. Vor allem fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut, Kimchi oder Kefir liefern wertvolle Probiotika. Schokolade mit über 70 Prozent Kakao und Beeren sind reich an Polyphenolen und Antioxidantien, welche die Haut vor freien Radikalen schützen. Omega-3-Fettsäuren aus Avocado, Lachs, Walnüssen, Chiasamen und Leinsamen wirken entzündungshemmend und unterstützen die Hautelastizität. Ingwer enthält präbiotische Ballaststoffe, die das Wachstum guter Bakterien fördern können.
Kann die Wissenschaft unser Hautbild revolutionieren?
Das Hautmikrobiom rückt immer stärker in den Fokus der Forschung – und das interdisziplinär. Neben der Mikrobiologie, Dermatologie und Gastroenterologie spielen auch die Kosmetikwissenschaft und die Bioinformatik eine wichtige Rolle. "Derzeit untersuchen Wissenschaftler unter anderem die Anwendung lebender Bakterienkulturen, wie Roseomonas mucosa bei Neurodermitis. In Zukunft könnten sogar Mikrobiom-Transplantationen eine Rolle spielen", sagt Dr. Neuhoff und fügt hinzu: "In der Hautpflege wird intensiv daran gearbeitet, das Mikrobiom zu unterstützen, um Hautprobleme wie Rosazea und Akne zu lindern." Doch das ist erst der Anfang. "Wissenschaftler arbeiten mit Hochdruck an mathematischen Modellen, um die Dynamik des Hautmikrobioms besser zu verstehen. Diese helfen, die Interaktionen zwischen verschiedenen Mikrobenarten zu analysieren und ihren Einfluss auf Hauterkrankungen zu entschlüsseln", ergänzt Neuhoff. So könnte es bald individuell abgestimmte Therapien und Produkte geben.
© Jacob Wackerhausen
Auch die Forschung zum Fasten zeigt spannende Effekte. „Erste Studien deuten darauf hin, dass Fasten die Zusammensetzung des Darmmikrobioms positiv beeinflussen und entzündungshemmende Stoffwechselprodukte fördern kann. Ob und wie sich diese Veränderungen direkt auf Hautkrankheiten wie Schuppenflechte auswirken, ist jedoch noch nicht abschließend untersucht, erklärt Dr. Bartolomaeus. Fasten könnte also auch ein Reset fürs Mikrobiom sein. Und wer wissen will, wie es um die eigene Hautflora steht, kann Tests für zu Hause nutzen (z. B. von Procomcure Dia-gnostics). Dabei wird eine Hautprobe eingesendet und innerhalb von drei Wochen analysiert. Noch steht dieses Verfahren ganz am Anfang, Experten raten daher, die Ergebnisse mit einem Facharzt zu besprechen.
Ob Fasten der ultimative Anti-Aging-Hack ist, oder ob wir bald Pflegeprodukte nutzen, die exakt auf unser individuelles Hautmikrobiom abgestimmt sind, bleibt Zukunftsmusik. Sicher ist: Das Mikrobiom gehört zu den spannendsten Forschungsfeldern der Hautpflege. Und die winzigen Mitbewohner auf unserer Haut sind und bleiben unsere verbündeten Superhelden.