Reise ins Aostatal: Ein Ort der Gebirgsmassive – und tougher Frauen
Das Aostatal liegt versteckt in Italiens Nordwesten zwischen den höchsten Bergen Europas. Annette Rübesamen ließ sich hier aber nicht nur von den Viertausendern beeindrucken.

Das Aostatal liegt versteckt in Italiens Nordwesten zwischen den höchsten Bergen Europas. Annette Rübesamen ließ sich hier aber nicht nur von den Viertausendern beeindrucken.
Man muss Egle erlebt haben, wie sie auf dem steilen Dachstuhl herumspringt. Die Sonne hat ihr Haar gebleicht, zur löchrigen Jeans trägt sie ein pinkes Fitness-Top und eine Sonnenbrille. Egle sieht aus, als wollte sie gleich mit dem Surfbrett los, doch ihre Welt sind die Berge, der Fels, die Steine. Der Monte Rosa etwa, der hinter ihr massig himmelwärts wächst. Auf dem war sie gestern mit ihrer Tochter – "ihr erster Viertausender".
Jetzt schwingt sie Gneis-Platten herum, als wären sie aus Papier und bringt sie mit Hammer und Meißel in Form. Egle ist Dachdeckerin aus Leidenschaft. Und weil in Gressoney die Häuser traditionell mit bis zu 50 Kilo schweren Steinschindeln gedeckt werden, ist die Ex-Sekretärin, die irgendwann keine Lust mehr auf Büro hatte, eine ungewöhnliche Erscheinung in der regionalen Szene. Mit anderen Worten: die einzige Frau.
Aostatal: Die wahren Gigantinnen
Eigentlich reise ich durchs Aostatal, diese Alpenregion im äußersten Nordwesten Italiens, um die gewaltigen Gebirgsmassive zu bestaunen: Monte Rosa, Monte Bianco, besser als Mont Blanc bekannt, Gran Paradiso. Die wahren Gigantinnen aber scheinen im Schatten dieser höchsten Gipfel Europas heranzuwachsen: Es sind die Frauen, die ich auf dieser Reise kennenlerne – allesamt tough, fröhlich, entschlossen. Jede ein Naturereignis.
Hängt das womöglich mit der Landschaft zusammen? Das Tal läuft in Deutschland noch unter Geheimtipp – im Gegensatz zu Südtirol kommt man auf dem Weg ans Meer hier auch eher selten durch. Das Haupttal schwingt sich nördlich von Turin wie ein schlankes S westwärts, in Richtung Mont Blanc und Frankreich. Über seinen Engstellen wachen mittelalterliche Burgen, Wein klettert die Hänge hoch. Doch die Seele der Region sitzt in den vielen Seitentälern. Im Valle de Lys etwa, das steil und schmal auf den Monte Rosa zuhält.
In diesem Tal liegt Gressoney-La-Trinité. Vor fast 1000 Jahren haben sich hier Bauern aus der Südschweiz angesiedelt, die Walser. An die Hänge haben sie Häuser gebaut, wunderschön mit Natursteinsockeln, dunkel verwitterten Holzaufbauten und winzigen Sprossenfenstern. Heute verraten teure Leinenvorhänge die neuen Eigentümer: wohlhabende Familien aus Mailand und Turin, die hier die Wochenenden verbringen.
Hinter dem Dorf reckt sich der Monte Rosa, eine massive Wand, 4528 Meter hoch und aller Erderwärmung zum Trotz noch gletscherbedeckt. Ein Anblick, bei dem nicht nur ich Herzklopfen bekomme. Auch eine Königin hat sich Ende des 19. Jahrhunderts in diesen Berg verliebt.
© Djamila Grossman
Castel Savoia, das Schloss der italienischen Monarchin Margherita steht weiter unten im Tal. Durch lichten Lärchenwald wandere ich hin. Mit seinen neogotischen Türmen sieht es wie eine "Playmobil"-Burg aus. Doch drinnen knarzt Parkett, es gibt Bücherregale, einen Billardtisch und eine Badewanne. "Jeden Sommer hat die Königin hier verbracht", erzählt der junge Guide. Fernab vom steifen Turiner Hof und ohne den Gemahl, Umberto I., der seinen Urlaub anderswo verbrachte, konnte Margherita den Blick auf den Monte Rosa aus fast jedem Schlossfenster genießen. Und sie ging begeistert in die Berge. Im Salon hängt ein altes Schwarz-Weiß-Foto an der Wand: die Königin beim Aufstieg über den Monte-Rosa-Gletscher, in Begleitung von Dackeln und 20 Bergführern. Sie lacht, und sie sieht glücklich aus.
Dieses Glück – es könnte an den Bergen liegen, die im Aostatal höher und gewaltiger sind als anderswo, und von deren Gipfeln etwas Frisches, Belebendes herunterweht. Ich spüre es ja selbst. Auch als ich durch Aosta spaziere, diese gemütliche Alpenstadt mit ihren steingrauen Kirchen, den altmodischen Milchgeschäften, aus denen das würzige Aroma von Fontina-Käse auf die Gassen weht, und den cool designten Wein-Bars.
© Djamila Grossman
In Aosta gibt der Grand Combin die Kulisse, ein Zackengrat, gleißend weiß, unwirklich schön. Eine Präsenz, die Abenteuer und Ewigkeit verspricht. Als ich an der Fassade des Theaters vorbeispaziere, das die alten Römer vor über 2000 Jahren errichtet haben, fällt mir auf: Das Publikum guckte auf die Bühne, die auf der Bühne schauten aufs Massiv.
"Unsere Berge! Ich brauche sie zum Denken und für meine Kreativität", sagt Chicco Margaroli in der Bar vom "Hotel Omama", nimmt auf einem der bonbonbunten Sessel Platz und streckt die Füße aus, die in Soques stecken – Holzschuhen, wie sie im Aostatal die Menschen einst in den Bergdörfern trugen. Chicco hat die Soques selbst bemalt, in Gold und Dunkelrosa, hat Federn und Glitzersteinchen aufgeklebt. Fröhlich klappernd läuft sie darin durchs Hotel, zeigt mir den Nachkriegskasten, den sie mit ihren Interieurs in ein eklektizistisches Gesamtkunstwerk verwandelt hat.
Hier die Dschungeltapeten! Dort die bunten Lianenmuster auf den Toiletten! Da die Installationen aus essbarer Kunst über dem Frühstücksbuffet! Chicco ist fantasievoll bis in die flachsblonden Haarspitzen, hat im Laufe ihrer Karriere auch Theaterkostüme entworfen und Hausfassaden bemalt. Mit ihrer kreativen Wucht würde sie prima mindestens nach Mailand passen, doch aus ihren Bergen ist die 60-Jährige nie weggegangen. "Sie sind mein Mantra. Meine Bestätigung. Auch wenn ich beim Wandern inzwischen unter 3000 Meter Höhe bleibe."
Spektakulärer Weg in den Himmel
Kein Mont Blanc also, denn der ist fast 5000 Meter hoch. Mitten in der sanften, grünen Weinlandschaft von Aymavilles macht das Tal eine Kurve, und ich bekomme ihn zum ersten Mal zu Gesicht. Einen Koloss aus Fels und Eis, so mächtig, dass mein Herz einen Sprung macht und ich mich winzig, fast schutzlos fühle. In Courmayeur, dem Urlaubsort an seinem Fuße, nähere ich mich ihm an. Per Skyway – so heißt das ultramoderne System aus zwei Seilbahnen, das zum Nachbargipfel Punta Helbronner führt.
© Djamila Grossman
Die Skyway entpuppt sich als Hochalpen-Erlebnispark mit Kino, Rolltreppen und Design-Bistros. Über die Mittelstation mit künstlichem Teich, wo sich Gäste in weißen Liegestühlen sonnen, gleite ich bis ganz nach oben. Vor dem Selfie-Spot auf 3466 Metern hat sich eine Schlange gebildet. Alle wollen sich ablichten mit dem Mont Blanc im Hintergrund. Mit spitzen Felsnadeln, senkrechten Wänden und schrundigen Gletscherfeldern. "Da gehen ja welche!", sagt ein Mann in knallgelben Sneakers überrascht und zeigt auf zwei angeseilte Bergsteiger. Dann drückt er den Mops in der gefütterten Tragetasche enger an sich. "Der Kleine friert", sagt er bekümmert.
Und ich habe bei der Runterfahrt ein schlechtes Gewissen. Weil ich es insgeheim toll fand da oben. Dabei sollten Berge doch keine rummeligen Touri-Locations sein, sondern heilig. Mühsam zu erklimmen. Orte der Stille. Claudia Linty macht vor, wie man die Berge besser lebt. Sie ist 45, Rangerin im Nationalpark Gran Paradiso, Mutter von fünfjährigen Zwillingen, aber am liebsten tagelang allein in der Natur unterwegs.
© Djamila Grossman
"Das ist mein großes Glück"
Wir treffen uns frühmorgens im Weiler Valnontey, und wandern zum Casotto, dem kleinen Steinhaus auf 2500 Metern, in dem Claudia schläft, wenn sie mehrere Tage hintereinander Dienst hat. Ihr Job: beobachten, was in der Natur vor sich geht, was bei den Steinböcken los ist, von denen es im Nationalpark Tausende gibt, und bei den Steinadlern. Und sie informiert und sensibilisiert Wandersleute.
Durch kühlen Bergwald und karge Almwiesen steigen wir die Hänge des Gran Paradiso hoch. Die Sonne wird kräftiger. Ein Bach rauscht. Claudias Hund Pic, ein Border Collie, läuft voraus. Als er stehenbleibt und starr in Richtung eines Schotterkars blickt, sehen wir dort ein Murmeltier hocken. Steinböcke? Heute Fehlanzeige. "Die leiden unter der Hitze und ziehen sich in immer höhere Höhen zurück. Die ganze Bergwelt hier", sagt Claudia, "ist fragiler, als sie aussieht. Das möchte ich den Besuchern schon auch mitgeben."
© Djamila Grossman
Vor dem Casotto – mit Holzofen und gekacheltem Bad – packen wir unsere Käsebrote aus. Claudia erzählt von ihren schönsten Momenten. Nachts, wenn sie ganz allein hier oben ist. Wenn die Gämsen näherkommen. "Einmal hat ein Steinbock zum Fenster hereingeschaut." Am liebsten sitzt sie dann draußen vor der Tür, in absoluter Stille. Vermisst keinen Menschen. "Ich spüre hier, wie ich Teil des großen Ganzen bin", sagt sie. "Das ist mein großes Glück".
Und nach fünf Tage Aostatal denke ich: Es könnte auch meines sein.
Annettes Tipps fürs Aostatal
Hinkommen & Rumkommen
Erst nach Turin, z. B. per Zug (ab München hin und zurück ab 104 Euro) oder mit dem Flugzeug (Air Dolomiti, z. B. ab Frankfurt ab 169 Euro), vor Ort braucht es dann ein Auto. E-Autos am Turiner Flughafen verleiht Alpine Green Experience (ab 68 Euro/Tag, greenvda.it), die mit verschiedenen Hotels im Aostatal kooperieren.
Übernachten
Nôtre Maison. In diesem komfortablen Chalet-Hotel mit hervorragender Küche kommt alle Energie, die in den Spa, zum Wärmen in den Badeteich, die Heizung … fließt, aus der hauseigenen Biogasanlage. DZ/F ab 186 Euro (Cogne, Fraz. Cretaz, Tel. 016 57 41 04, notremaison.it).
Hotel Omama. Stylishes Stadthotel in Aosta, dessen fröhliches Design sofort für gute Laune sorgt. Die Lage zwischen Bahnhof und Fußballstadion hat auch Vorteile: Ins historische Zentrum ist es zu Fuß ein Katzensprung. DZ/F ab 100 Euro (Via Torino 14, Tel. 016 44 45 93, alpissima.it).
© Djamila Grossman
Genießen
Wongade. Im alten Stadel, das in ein schickes Restaurant verwandelt wurde, gibt es z. B. tolle Tagliatelle mit Hirschragout für 19 Euro (Gressoney-La-Trinité, Loc. Edelboden, Tel. 01 25 36 60 52, wongade.com).
Le Bar à vin. In Aostas Altstadt hatte ich hier im Gärtchen weißen Speck, Honig und Kastanien (12 Euro) und Bergblick (Via Porta Pretoria 55, Tel. 01 65 26 38 42, lebaravin.it).
Erleben
Castel Savoia. Bei der Führung durch das Jagdschloss wandelt man auf den Spuren von Königin Margherita. Eintritt 10 Euro (Gressoney-Saint-Jean, valledaostaheritage.com/en/castel-savoia/).
Skyway Monte Bianco. Die Seilbahn zur Punta Helbronner ist Hightech, auf 3455 Metern erfasst einen beim Ausblick der Natur große Ehrfurcht. Ticket ab 24 Euro (montebianco.com).
Forte di Bard. Festungsanlage mit sehenswertem Alpenmuseum, das sich u. a. mit Klimawandel und Gletschern beschäftigt. Eintritt 8 Euro (Bard, fortedibard.it).
Einkaufen
Les Crêtes. Aosta-Weine wie den weißen Petit Ervin keltern die Schwestern Elena und Eleonora Charrères auf ihrem Weingut. Verkostet wird im stylishen Probierraum mit Gletscherblick (Aymaville, lescretes.it).
Taccomania. Das süße Schuhgeschäft verließ ich mit super Wildleder-Loafern für schlappe 80 Euro (Aosta, Via Edouard Aubert 70, Insta: taccomania_aosta).
Telefon & Infos
Die Vorwahl Italiens ist 00 39, die offizielle Tourismus-Website fürs Aostatal lovevda.it
Die Festungsanlage Forte di Bard beherbergt ein charmantes Alpenmuseum mit viel Wissenswertem über Gletscher und Klima, Kunst und Mode (Bard, fortedibard.it).
Gemütlich verwinkelt, viel Holz, herzliche Atmosphäre und vier Sterne: das »Romantic Hotel Jolanda Sport« in Gressoney-La–Trinité. DZ/F ab 220 Euro (Tel. 01 25 36 61 40, hoteljolandasport.com).