Sexualität: "Einen Orgasmus kann dir niemand geben – du kannst lernen, ihn zuzulassen"
Sex selbstbestimmt, lustvoll und aus vollen Zügen zu genießen – wie kann das für noch mehr Frauen Realität werden? Sexologin Lea Holzfurtner hat da ein paar Ideen.

Sex selbstbestimmt, lustvoll und aus vollen Zügen zu genießen – wie kann das für noch mehr Frauen Realität werden? Sexologin Lea Holzfurtner hat da ein paar Ideen.
Natürlich verdienen wir auch beim Sex das Beste. Aber ist dafür nicht der Partner verantwortlich?
Lea Holzfurtner: Diese Erwartungshaltung, dass unsere Spielpartner die Aufgabe haben, uns irgendwie einen Orgasmus zu produzieren, gibt es gerade im heterosexuellen Kontext oft. Egal in welcher Geschlechts- oder Beziehungskonstellation: Einen Orgasmus kann dir niemand geben, aber du kannst lernen, ihn zuzulassen. Du bist selbst dafür verantwortlich zu erkunden, was du für ihn brauchst und dieses Wissen mit Partner:innen zu teilen.
Dann sind wir am Orgasmus-Gap – 95 Prozent der Männer kommen bei heterosexuellem Sex zum Höhepunkt, aber nur 65 Prozent der Frauen – also selbst schuld?
Nein. Das Hauptproblem ist, dass wir alle als Gesellschaft den Sex, den man haben darf und soll, als Penetration definieren. Diesen Mythos lernen wir aus Büchern, Popsongs, Märchen, Pornos. Die Anatomie von Menschen mit Vulva ist aber nicht so geschaffen, dass diese Art von Sex für sie zielgerichtet zum Orgasmus führt. Die meisten benötigen zusätzliche Stimulation der Klitoris.
Und wie definieren Sie als Sexologin Sex?
Als jede Art von Aktivität, die dir sexuelle Lust bereitet. Man darf Sexualität und Sex jeweils ganz individuell kreieren. Es gibt kein vorgegebenes Skript, wie Menschen Sex haben sollten, wir sind herausgefordert, selbst zu definieren und zu gestalten.
Ich kenne Frauen, die Sex zwar nicht ablehnen, aber denen die ganze Sache mittlerweile zu aufwendig erscheint. Eine "Damit bin ich durch"-Haltung.
Das ist sehr schade, weil man sich damit die vielen gesundheitlichen Vorteile, die Erregung und Orgasmen bringen, nimmt: die stimmungsaufhellende Wirkung, den positiven Effekt auf das eigene Körperbild, die Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems. Trotzdem: Wenn jemand sagt "Ich habe keine Lust auf Sex und bin damit happy", ist das völlig in Ordnung. Mein Tipp ist dann: Hör mal hin, ob diese Entscheidung aus der negativen Ecke kommt, also eher ein Weglaufen vor Angst oder Leistungsdruck ist. Dann macht es Sinn, sich zu überlegen, an diesen negativen Emotionen zu arbeiten. Übrigens: Es ist absolut logisch, Sex, den man nicht wirklich und ehrlich genießt, nicht zu wollen. Es ist auch normal, dass der Körper dann immer weniger Lust produziert. Wer nicht den Sex hat, den er sich wirklich wünscht, hat immer weniger Verlangen danach. Auch deshalb sollten wir uns bemühen, Sexualität zu kreieren, auf die wir Lust haben.
Was wäre der erste Schritt?
Ins Solo-Play zu gehen. Sich also erst mal in einem sicheren Umfeld, ohne Druck, etwas zu leisten, "gut" auszusehen oder bei jemand anderem bestimmte Gefühle produzieren zu müssen, mit seiner Lust auseinanderzusetzen. Zeit mit sich zu verbringen, damit der Körper wieder lernt, dass Sex zu etwas Positivem führt. Es geht darum, sich auf die Suche zu machen, welche Stimulation sich gut anfühlt, welche Fantasien erregen, welchen Kontext man braucht, um Sex zu genießen.
Dazu würde jetzt wahrscheinlich manche
Frau sagen: Würde ich ja tun, wenn die Lust denn mal wieder anklopfen würde ...
Viele Menschen wissen nicht, dass nicht alle von uns spontan Lust auf Sex empfinden. Selbst in wissenschaftlichen Modellen wird oft davon ausgegangen: erst kommt die Lust, dann die körperliche Erregung. Es gibt aber nicht wenige, die Verlangen nur als Reaktion auf etwas empfinden. "Responsive" Lust ist genauso gut und erlaubt wie spontane. Wichtig ist es, seine Lust-Variante anzuerkennen. Gehörst du zum "responsiv" bedeutet es, dass man sich Stimuli und Szenarien kreieren muss, damit Lust überhaupt entstehen kann, und sich aktiv Zeit dafür schaffen sollte. Und sei es, indem man sich Zeit für Solo-Play in den Kalender einträgt.
Sie sprechen von Solo-Play statt von Masturbation, die immer noch als minderwertig, unvollkommen, schmuddelig gilt.
Es ist ein Vorurteil, dass Masturbation nur etwas für Menschen ist, die niemanden finden und sich notgedrungen selbst drum kümmern müssen. Es ist total normal, manchmal sogar mehr Lust darauf zu haben als auf Partnersex. Paaren empfehle ich gern gemeinsames Solo-Play oder die Mutual Masturbation. Wenn sich jede:r, ob zusammen im Bett, im Zimmer oder in derselben Wohnung, um sich selbst kümmern darf, nimmt das total Druck raus, während man trotzdem gemeinsam Sexualität erlebt.
Was ist mit Sextoys, die Orgasmen auf Knopfdruck versprechen, mit deren Stimulation aber rein technisch kein Partner mithalten kann?
Aber alle Partner haben Hände, um Sextoys zu bedienen. Ich plädiere ganz entschieden gegen das Stigma, dass Sextoys eine Krücke sind oder eine Konkurrenz für Partnerin oder Partner. Sie sind Verbündete. Alle Orgasmen, ob mit Toy, Hand, Penis, wie auch immer, sind wunderbare Orgasmen.
Lea Holzfurtner ist klinische Sexologin und coacht in ihrer Berliner Praxis Paare und Menschen mit Vulva bei Orgasmus- und Libidoproblemen (sex- coach.berlin). In ihrem Podcast "Berlin Intim" ist man live bei Sex-Coaching-Sitzungen dabei.
Lust auf mehr? Tipps zum Weiterlesen
"Komm, wie du willst! Das neue Frauen-Sex-Buch" von Emily Nagoski (480 S., 16,99 Euro, Knaur).
Von derselben Autorin im Herbst erschienen: "Kommt zusammen! Die Kunst (und Wissenschaft) sexuell erfüllter Beziehungen" (416 S., 24 Euro, Knaur)
"Das Comeback deiner Lust. So entfachst du das Feuer in dir" von Dania Schiftan (304 S., 16 Euro, Piper)
"Dein Orgasmus. Ein Workbook für Menschen mit Vulva" von Lea Holzfurtner (142 S., 20 Euro, über Amazon)