9 Mythen über Minimalismus – und deren Entlarvung
Um den Minimalismus ranken sich viele Mythen und Missverständnisse, die oft den wahren Kern dieses Lebensstils verschleiern. Es ist an der Zeit, diese Mythen zu entlarven und zu zeigen, dass Minimalismus für alle zugänglich und vielfältig ist.


Seit bald 20 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Minimalismus. Ich habe mein Leben in allen Bereichen nach und nach vereinfacht, blogge seit 2012 hier auf Einfach bewusst über das Thema und habe den Ratgeber „Das Minimalismus-Projekt – 52 praktische Ideen für weniger Haben und mehr Sein“ geschrieben.
In all diesen Jahren bin ich immer wieder auf Mythen und Missverständnisse über Minimalismus gestoßen – sei es in der Presse, im Fernsehen, in Blogkommentaren oder in E-Mails von meinen Leserinnen und Lesern. Diese Irrtümer verdecken oft die wahre Essenz des minimalistischen Lebens. Ich habe sie gesammelt und löse sie heute auf, um zu zeigen, dass Minimalismus für jeden zugänglich ist und auf viele verschiedene Arten gelebt werden kann.
Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich in diesem Artikel auf die gleichzeitige Verwendung männlicher, weiblicher und diverser Sprachformen. Alle Menschen sind gleichermaßen angesprochen.
Mythos #1: Minimalismus bedeutet, fast nichts zu besitzen.
Die Medien zeigen gerne Minimalisten (oder sie präsentieren sich selbst so), die in spärlich ausgestatteten Wohnungen, in engen Tiny Houses oder als digitale Nomaden leben. Solche Extrembeispiele existieren. Tatsächlich geht es beim Minimalismus aber nicht darum, möglichst wenig zu besitzen, sondern nur das zu besitzen, was man wirklich (ge)braucht, was das Leben vereinfacht und bereichert. Minimalisten kennen ihre Leidenschaften. Und um diese auszuüben, sind Dinge oft unverzichtbar. Ich koche und esse gerne, habe Freunde und Familie zu Besuch, liebe den Klang von Schallplatten und gehe oft wandern, mal für einen Tag, mal übers Wochenende, mal monatelang. Diese Leidenschaften und Hobbys könnte ich kaum ausleben, wenn mein Hab und Gut in zwei Umzugskartons passen würde.
Mythos #2: Minimalisten geht es nur ums Ausmisten.
Das Reduzieren von Besitz und Konsum ist meist der Einstieg in einen minimalistischen Lebensstil. Er umfasst jedoch weit mehr. Minimalismus bedeutet auch, andere Bereiche zu überdenken und zu vereinfachen. Dazu gehören die Freizeit- und Urlaubsaktivitäten, die Partnerschaft und andere Beziehungen, das Arbeitspensum, die Bildschirmzeit, die Kommunikation und sogar die eigenen Gedanken. Im Mittelpunkt steht die Ausrichtung auf das, was wirklich wesentlich ist und zu einem erfüllten Leben beiträgt.
Mythos #3: Minimalismus ist mit Kindern nicht möglich.
Oft höre ich, dass Minimalismus mit Kindern nicht vereinbar ist, weil sie viele Dinge brauchen und der Alltag mit ihnen chaotisch ist. Ich sage, dass man mit Kindern ein einfaches Leben führen kann, es vielleicht sogar tun muss, um nicht im Familienchaos durchzudrehen. Weniger Kram und Erwartungen bedeuten weniger Gram und Belastung und mehr Zeit für das Wesentliche – die Familie (Tipps dazu findest Du im Kapitel „Minimalistisch leben mit Kindern“ meines Ratgebers). Im Grunde kommen wir alle als Minimalisten auf die Welt. Babys haben nur die nötigsten Bedürfnisse, nämlich Liebe, Wärme, Nahrung und Fürsorge. Minimalismus kann uns daran erinnern, den Zustand der Einfachheit und Freiheit in unserem Leben zu bewahren oder wiederzuerlangen.
Mythos #4: Minimalisten besitzen weder Erinnerungsstücke noch Deko.
Ein häufiges Missverständnis ist, dass Minimalisten nur Gebrauchsgegenstände besitzen dürfen, die einem praktischen Zweck dienen. Doch Erinnerungsstücke, Kunst, Dekoration und Pflanzen können durchaus ihren Platz in einem minimalistischen Zuhause finden – solange sie emotionalen oder ästhetischen Wert haben und nicht nur unbedacht angesammelte Staubfänger sind. Freiwillige Einfachheit bedeutet nicht, auf alles zu verzichten, sondern zu entscheiden, was für einen selbst bedeutungsvoll ist und was nicht.
Mythos #5: Minimalismus heißt, allzeit perfekt organisiert zu sein.
Dass Minimalisten immer alles im Griff haben und perfekt strukturiert sind, ist ein weiterer Irrtum. Perfektionismus kann zu überhöhten Ansprüchen und Überforderung führen. Minimalismus bedeutet aber nicht, einem strengen Ideal nachzujagen. Vielmehr geht es darum, etwas Ordnung zu schaffen, unnötigem Stress zu reduzieren und Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Werten und Bedürfnissen entsprechen.
Mythos #6: Minimalisten leben grundsätzlich nachhaltig.
Häufig wird angenommen, dass Minimalismus automatisch zu mehr Nachhaltigkeit führt, weil durch bewusstes Handeln unüberlegter Konsum reduziert wird. In vielen Fällen stimmt das. Wer minimalistisch lebt, konsumiert weniger, achtet meist mehr auf Qualität und Langlebigkeit und trifft oft gezieltere Entscheidungen. Dennoch ist Minimalismus nicht immer gleichbedeutend mit Nachhaltigkeit. Man kann durchaus einfach leben und trotzdem wenig umweltfreundlich handeln. Beispielsweise belasten Flugreisen, Kreuzfahrten, ein hoher Konsum von tierischen Produkten und importierten Lebensmitteln sowie häufige Autofahrten unseren Planeten und seine Bewohner.
Mythos #7: Minimalismus ist eine Notlösung für Menschen mit wenig Geld.
Minimalismus wird manchmal mit finanziellen Zwängen und Armut gleichgesetzt. Armut ist ein unfreiwilliger Mangel, dem die meisten Menschen entkommen wollen, während Minimalismus freiwilligen Verzicht bedeutet. Wer minimalistisch lebt, verzichtet nicht aus Not, sondern aus der Überzeugung, dass weniger oft mehr ist. Ein Minimalist strebt nach Freiheit – der Freiheit, sich von Ballast zu lösen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Natürlich können sich auch Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln als Minimalisten verstehen, sofern sie diesen Lebensstil aus Überzeugung praktizieren.
Mythos #8: Minimalisten können keine Sammler sein.
Viele Menschen glauben, dass das Streben nach einem minimalistischen Lebensstil automatisch den Verzicht auf jegliche Sammelobjekte bedeutet. Doch das ist nicht der Fall. Minimalismus bedeutet nicht, auf alles zu verzichten, sondern sich bewusst für das zu entscheiden, was einem wichtig ist. Ich selbst habe eine Sammlung von 900 LPs, die ich mit Herzblut pflege. Für mich ist diese Sammlung (sie ist auf dem Foto unten zu erkennen) keine bloße Ansammlung von Schallplatten, sondern Ausdruck meiner Leidenschaft für Musik. Ich höre mir die Alben an und verwende sie auch für Plattencover-Ausstellungen in meinem Wohnzimmer. Minimalismus und Sammeln passen also durchaus zusammen, wenn das Sammeln das Leben des Sammlers bereichert, der Sammler die Sammlung im Griff hat und nicht andersherum, wenn das Sammeln also eine Leidenschaft und keine schlechte Gewohnheit oder gar Sucht ist.
Mythos #9: Minimalismus ist nur ein Trend.
Oft wird Minimalismus als Modeerscheinung angesehen, die wieder vergeht. Doch das ist ein Irrtum. Schon die chinesischen, griechischen und römischen Philosophen der Antike lehrten, dass Glück und Reichtum nicht im Besitz materieller Dinge liegen, sondern in der inneren Zufriedenheit und der Kontrolle über die eigenen Wünsche. „Das Aussortieren des Unwesentlichen ist der Kern aller Lebensweisheit“, sagte Laozi vor mehr als 2.500 Jahren. „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen“, riet Epikur. Und mein Lieblingsstoiker Seneca wusste schon anno dunnemals: „Nicht arm ist der, der wenig hat, sondern der, der nach mehr verlangt.“ Der minimalistische Lebensstil ist also kein modernes Phänomen, sondern ein zeitloses Prinzip – das angesichts unseres heutigen Überkonsums vielleicht wichtiger denn je ist.
