Liking Gap: Andere Menschen finden dich viel sympathischer, als du denkst
Eigentlich war das eine nette Begegnung vorhin, aber du fürchtest, dass dein Gegenüber das komplett anders sieht? Willkommen im Club: Mit dem "Liking Gap" bist du in guter Gesellschaft.

Eigentlich war das eine nette Begegnung vorhin, aber du fürchtest, dass dein Gegenüber das komplett anders sieht? Willkommen im Club: Mit dem "Liking Gap" bist du in guter Gesellschaft.
Der Abend hat eigentlich richtig Spaß gemacht. Aber warum beschleicht uns dann hinterher das Gefühl, nicht genügt zu haben? Dass wir uns die eine Bemerkung besser gespart hätten? Dass wir zu still oder vielleicht sogar abweisend waren? Und haben wir schon wieder zu viel getrunken?
Willkommen im Club der chronischen Selbstzweifler*innen. Nicht wenige von uns befürchten nach einer Begegnung, dass der:die andere das Treffen mit uns unangenehm fand, dass wir Dinge gesagt haben, die nicht gut ankamen – und dass unser Gegenüber einfach nur zu höflich war, um den Abend abzubrechen und sich spannenderen Beschäftigungen und Menschen zuzuwenden.
Liking Gap bedeutet: Wir schätzen das Urteil der anderen als zu negativ ein
Für dieses unschöne Gefühl gibt es im Englischen einen Begriff: "Liking Gap", vielleicht am treffendsten übersetzt mit "Sympathie-Lücke". Sie benennt die Differenz zwischen unserer Einschätzung, wie sympathisch uns jemand findet, und dem, was unser Gegenüber tatsächlich von uns hält. Wissenschaftler:innen haben in einer Studie herausgefunden, dass die allermeisten von uns unterschätzen, wie positiv sie wahrgenommen werden.
Ungünstig sind in diesem Zusammenhang nicht nur die unnötigen Grübeleien, sondern auch, dass solche Selbstzweifel unsere Beziehungen belasten. Um uns vor im Nachhinein als negativ empfundenen Begegnungen zu schützen, neigen wir dazu, uns zurückzuziehen statt uns weiter zu öffnen.
Niemand ist so kritisch mit uns wie wir selbst
Tatsächlich nehmen wir fälschlicherweise an, dass wir von unseren Mitmenschen ständig bewertet werden. Mal wieder zu laut und an der falschen Stelle gelacht? Pickel am Kinn, Bad Hair Day, Speckrolle überm Hosenbund? Besonders Frauen kennen solche selbstkritischen Gedanken nur zu gut.
Die gute Nachricht ist: Die Anderen empfinden das meist ganz anders. Sie beurteilen uns in der Regel gar nicht und machen sich insgesamt viel weniger Gedanken über uns, als wir annehmen. Und wenn doch: Kaum jemand geht so hart ins Gericht mit uns, wie wir selbst.
Die Gründe für den Liking Gap
Die Gründe für den Liking Gap sind vielschichtig: eine Gesellschaft, die Selbstoptimierung fordert, dazu die Selbstwahrnehmung und -inszenierung als Objekt, wie sie sich etwa in unserer Selfie-Kultur manifestiert, fehlendes Selbstvertrauen und die Normen, wie man als Frau, Vorgesetzter, Kollegin, Freundin oder Mutter zu sein hat.
Vermutlich wurzelt das Liking Gap aber schon in grauer Vorzeit. Bereits vor gut 100 Jahren schrieb der Harvard-Psychologe William James, dass es einst überlebensnotwendig war, sein Gegenüber richtig einschätzen zu können. Als soziale Wesen sind wir fundamental abhängig vom Urteil anderer Menschen, denn wir sind darauf angewiesen, andere auf unserer Seite zu haben, wenn der Säbelzahntiger angreift. Zu einer Gruppe zu gehören, sicherte das Überleben – ausgestoßen zu werden, bedeutete den Tod. Da ist es im Zweifel sicherer, den anderen als Feind zu betrachten, als irrtümlicherweise als Freund.
Schon als Baby üben wir daher unaufhörlich, die Mimik anderer Menschen zu lesen und die Auswirkungen zu deuten, die unser Verhalten auf sie hat. In nur 40 Millisekunden erkennen wir, ob der andere uns wohlgesonnen ist, schreibt die Psychologin Terri Apter in Psychology Today, die zum Liking Gap geforscht hat. Gleichzeitig verarbeiten wir Informationen über den Eindruck, den wir hinterlassen.
Auch sie hat festgestellt, dass Menschen das Urteil ihres Gegenübers systematisch unterschätzen. Im Umkehrschluss heißt das: Wir können uns locker machen, denn unser Urteilsvermögen ist begrenzt. Die anderen finden uns oft viel sympathischer, als wir glauben.