Kurz mal den Kopf in den Sand stecken: Eskapismus-Strategien, die uns gegen akuten Weltschmerz helfen
Seit einiger Zeit überschlagen sich die Nachrichten. Bei all den Krisen keimt eine Sehnsucht nach Eskapismus auf. Das ist normal bis gesund – BRIGITTE-Redakteurinnen teilen ihre Selbstfürsorge-Strategien.

Seit einiger Zeit überschlagen sich die Nachrichten. Bei all den Krisen keimt eine Sehnsucht nach Eskapismus auf. Das ist normal bis gesund – BRIGITTE-Redakteurinnen teilen ihre Selbstfürsorge-Strategien.
Darf ich jetzt Trash TV gucken? Diese Frage kam vor Kurzem in unserer Redaktionskonferenz auf. Na klar, wieso nicht, kam es aus einer Ecke, während andere Bedenken äußerten. Haben wir nicht gerade andere Probleme? Klimawandel, Kriege, Machtwechsel, in den Nachrichten kann man sich die Krisen gerade aussuchen. Doch gerade dann steigt bei manchen Menschen das Bedürfnis, sich abzulenken.
Eskapismus hat einen schlechten Ruf. Schließlich ist niemandem geholfen, wenn wir Konflikte und Klimawandel ignorierend ans andere Ende der Welt fliegen (wohin auch?), um dort den Kopf in den Sand zu stecken. Ungefähr genauso wenig Einfluss hat es aber, sich Tag und Nacht in Sorgen zu wälzen. Das ist vor allem energieraubend und die Energie brauchen wir, um uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: alltagsnah aktiv zu werden. In der Redaktion sammelten wir etwa Beispiele, wie wir die Demokratie stärken können – quasi nebenbei. So oder so, um uns weniger machtlos zu fühlen, hilft es, ins Handeln zu kommen, dafür brauchen wir Kraft. Und die dürfen wir aus dem ziehen, was uns individuell guttut.
Trotzdem haben wir das Problem noch nicht gelöst, dass einige zwar durchaus Eskapismus betreiben – in dem sie sich in Krimis, Reality TV oder Bingewatching verkriechen – dabei aber nach wie vor ein schlechtes Gewissen empfinden. Darf es mir gut gehen, wenn es der Welt schlecht geht?, fragte meine Kollegin kürzlich fünf Psycholog:innen. Unter ihnen die Psychotherapeutin Katharina Förster, die die Rolle der Selbstfürsorge erwähnte – es sei durchaus hilfreich, sich selbst angesichts der Krisen etwas Gutes zu tun: "Dieses sogenannte Selbst-Mitgefühl kann im Umkehrschluss wieder dabei hilfreich sein, sich für das Leiden in der Welt zu öffnen und den Wunsch, dieses zu lindern." Auch Biopsychologe Peter Walschburger animierte zu Realismus: "Unser Dilemma ist kaum aufzulösen. Wir leben in dem Spannungsfeld, dass die Probleme der Welt groß sind, wir sie aber nicht lösen können. Da ist eine Anpassungsleistung nötig, die jede:r für sich bewältigen muss.“
Eskapismus-Strategien: Wie wir unsere Akkus aufladen
Wie diese Anpassung aussieht, kann ganz unterschiedlich sein. Unsere BRIGITTE-Redaktion macht das Türchen auf – und teilt ihre Eskapismus-Strategien zum Auftanken. Vielleicht ist ja für die eine oder andere etwas dabei.
Bunte Nachtwelt
"Ausgehen, Nachtleben, Musik machen. Zusammen mit Künstlerfreund:innen, die KEINE Kinder haben, NICHTS mit meinem Job am Hut haben und keine Lust haben, über Politik zu reden. Man begibt sich gemeinsam in eine bunte Parallelwelt, blendet für eine Nacht alles aus, macht viel Quatsch und hat dadurch neue Power für die kommende Woche." Stella
Zauberhafte Fantasy-Welt
"Lesen ist mein Wohlfühl-Hobby, das mich von Stress und Sorgen ablenkt. Und wenn ich gerade einen besonders starken Drang habe, meinem Leben zu entfliehen, greife ich zu Fantasy-Romanen und tauche in magische Welten ab." Merle
Auswander-Pläne
"Der Abgabetermin für die Steuererklärung rückt immer näher, der Wetterbericht sagt für die ganze Woche kalt und grau voraus und ich müsste dringend einen Zahnarzttermin vereinbaren? Der perfekte Zeitpunkt, den Laptop aufzuklappen und nach Immobilienangeboten auf Kreta zu suchen. Ich prüfe die Grundrisse darauf, ob sie dafür taugen, dass Freunde bei mir, der potenziellen Auswanderin, übernachten können, schaue mir auf der Karte an, wie weit das Meer und der nächste Supermarkt entfernt sind und stelle mir vor, wo ich auf der schattigen Terrasse meine Hängematte aufhängen würde." Anke
Romantik drinnen und draußen
"Ich habe zwei Eskapismus-Strategien: Wenn das Wetter schön ist, reite ich mit dem Pferd oder gehe mit dem Hund in den Wald, höre dem Vogelgezwitscher zu und konzentriere mich nur auf die Natur, meine Atmung und das Hier und Jetzt. Und wenn es zum Beispiel regnet, dann flüchte ich mich eingekuschelt auf dem Sofa in Liebesromane und tauche in eine andere Welt ein." Saskia
Wachsen (lassen)
"Ich besorge mir Pflanzen für den Balkon (das geht auch im Winter mit Hornveilchen und Christrosen) und freue mich darüber, wenn es blüht, bunt leuchtet und im Sommer die Tomaten, Bohnen und Erdbeeren wachsen. Alternativ ist Wassergymnastik für mich eine der besten Möglichkeiten, um abzuschalten. Ob zu zweit am Beckenrand mit einer Freundin oder im Kurs mit vielen zu lauter Musik. Das ist Spaß und Auspowern gleichzeitig." Katrin
Unendliche Krimis
"Je größer die Weltkrisen, desto mehr entdecke ich Krimi-Reihen für mich. Es gibt mir unheimlich viel Sicherheit, Autor:innen zu entdecken, die gerade den 18. Fall eines Ermittler-Teams herausgebracht haben. Denn ich weiß: ich kann beim ersten Band starten und diese Parallelwelt wird mich so bald nicht wieder verlassen. Auch ganz schön: egal wie viele Verbrechen geschehen, es gibt andere, die sich drum kümmern – meist mit Happy End. Und wenn es einen 18. Fall gibt, kann man relativ sicher sein, dass die Protagonist:innen die ersten 17 überleben." Mareike
Ab ins Central Perk
"Um sich von Problemen abzulenken, gibt's nichts Besseres als 'Friends' zu schauen. Egal, wie wild es gerade bei einem persönlich oder auf der Welt zugeht – Chandler, Monica, Rachel, Ross und Phoebe schaffen es immer wieder, mich für 20 Minuten in ihre lustige Clique aufzunehmen. Genauer gesagt, schaffe ich es selten, nach einer Folge den Fernseher abzudrehen. Es ist einfach viel zu schön, so viel zu lachen! Tipp: Unbedingt auf Englisch schauen, denn im Deutschen verlieren die Gags leider ziemlich an Charme. " Anna
Eichhörnchen-Freundschaften
"Wenn ich mal Zeit habe, versinke ich häufig in meinem Instagram-Feed, aber das tut mir nicht gut. Viel besser ist es, im Park um die Ecke spazieren zu gehen und zu erleben, wie schön die Welt eigentlich ist: Mir die Blumen anzuschauen, die Eichhörnchen zu beobachten, Wind und Sonne auf der Haut zu spüren und den Vögeln zuzuhören." Susanne
Das Böse bekämpfen
"Wenn das echte Leben richtig weh tut, tauche ich in Welten ab, in denen ich Monster besiege, gruselige Dungeons durchlaufe, die coolsten Klamotten überhaupt trage und mein leuchtendes Schwert und blitzenden Zauberstab schwinge. Nichts lenkt mich so wunderbar vom Alltag ab, wie zocken. Am liebsten mit Freunden. Ob DND-Abenteuer mit Würfel und Papier oder unterwegs in Azeroth in der World of Warcraft, Hauptsache es hat nichts mit der Realität zu tun." Julia
All diese Dinge tragen nicht dazu bei, die Probleme dieser Welt zu lösen. Aber sie helfen, die eigenen Akkus aufzuladen, seine eigenen Grenzen zu erkennen, sie zu wahren und Selbstfürsorge zu betreiben. Um den Kopf danach wieder aus dem Sand zu ziehen und die Welt ein wenig klarer zu betrachten – und zu erkennen, welche Krisen im eigenen Einflussbereich liegen und welche nicht.