Interview: Wie die Gendermedizin Frauenleben retten will

Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen scheinen offensichtlich und doch kommt Frauen in vielen Bereichen noch immer die männliche Standarduntersuchung zu. Im Interview erklärt Gendermedizinerin Prof. Sandra Eifert warum das so gefährlich ist.

Feb 21, 2025 - 12:39
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Interview: Wie die Gendermedizin Frauenleben retten will

Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen scheinen offensichtlich und doch kommt Frauen in vielen Bereichen noch immer die männliche Standarduntersuchung zu. Im Interview erklärt Gendermedizinerin Prof. Sandra Eifert warum das so gefährlich ist.

BRIGITTE:In welchen Bereichen ist die Unterscheidung des Genders besonders wichtig?

Prof. Sandra Eifert: In der Gendermedizin werden bislang sechs große Themenkomplexe betrachtet. 

  • Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ein typisches Beispiel. Die Sterblichkeitsrate bei Herzinfarkten war bei Frauen bis vor wenigen Jahren doppelt so hoch wie bei Männern. Frauen sind durch die weiblichen Geschlechtshormone viele Jahre gut geschützt, aber wenn dieser Schutz ab Mitte 40 langsam nachlässt, können sich Risikofaktoren entwickeln und eben darauf basierend Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen häufiger auftreten.  
  • Außerdem wichtig sind die großen Bereiche Neurologie und Psychiatrie. Da gibt es auch große Unterschiede, zum Beispiel beim Schlaganfall, aber eben auch bei psychiatrischen Krankheitsbildern, zum Beispiel bei Depressionen.
  • Dann ist es so, dass wir uns vom Skelett-System natürlich unterscheiden, also einen anderen Körperbau haben. Zum Beispiel gibt es immer das Thema "Gender-Knie", es gilt aber auch für die Hüften. Der weibliche Körperbau ist für die Reproduktion geschaffen, das führt aber im Laufe des Lebens dazu, dass die (Druck-)Belastung an den darunter gelegenen Gelenken stärker ist. Deshalb kriegen Frauen zum Beispiel mehr Knieersätze.  
  • Infektionen und Autoimmunerkrankungen sind ein großer, weiterer Bereich, der geschlechtsspezifisch ist. Letztere betreffen vor allem Frauen. Das hat etwas mit unserem doppelten X-Chromosom, also unserem doppelten Geschlechtschromosom, zu tun. Hier ist die körpereigene Abwehr verschlüsselt. Normalerweise ist nur eins aktiv und arbeitet, aber wir haben, falls dieses ausfallen sollte, noch eine Alternative zur Verfügung. Ein Luxus, den Männer nicht haben. Das führt das aber auch manchmal dazu, dass es eine überschießende Immunreaktion auf einen bestimmten Reiz gibt.  Autoimmunerkrankungen können sich bei Frauen in Folge von Schwangerschaften, Bluttransfusionen, aber auch Impfungen entwickeln, oder während der hormonellen Umwandlungsphasen. 

Was sind typische Fehldiagnosen oder Behandlungsfehler?  

Das ist eine schwierige Frage, da sie ja unter Geschlechtsspezifik bislang nicht erfasst wurden. Diese Geschlechterunterschiede, das gilt für alle Erkrankungen, erstrecken sich von den Risikofaktoren über die Symptomatik bis hin zur Diagnostik und daraus abgeleitet auch noch bis hin zur Therapie. Es ist also sehr vielschichtig und dadurch auch ein bisschen kompliziert.

Der Herzinfarkt wird häufig unterschätzt, weil die Symptomatik anders sein kann.  

Männer haben häufig diese typischen Schmerzen hinter dem Brustbein oder der linken Brusthälfte, die bis zum linken Arm ausstrahlen können. Das kann Frau auch haben, muss sie aber nicht. Die Schmerzen der Frau beim Herzinfarkt finden sich eher am Rücken mit Ausstrahlung bis zum Hals und Nacken. Zusätzlich haben Frauen häufig unspezifischere Beschwerden. Sie fühlen sich abgeschlagen, sie sind nicht mehr so belastbar, ihnen ist übel. Übelkeit ist ein Symptom vieler Erkrankungen. Wenn all das gehäuft oder verstärkt auftritt und sich intensiviert, dann kann man ans Herz denken und es untersuchen lassen.  

Unterschätzt werden beispielsweise auch die Risikofaktoren für die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Es gibt die klassischen Risikofaktoren zum Beispiel von Gefäßerkrankungen, sowohl am Herzen als auch an den Hals- oder Beingefäßen. Das sind Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Fettstoffwechselstörungen und Rauchen. Sie spielen bei Männern und Frauen eine unterschiedlich starke Rolle. 

Zusätzlich kommen bei den Frauen als Risikofaktoren Autoimmunerkrankungen, Schwangerschaftskomplikationen – also Bluthochdruck oder Zucker während der Schwangerschaft bis hin zur Schwangerschaftsvergiftung – und rheumatische Erkrankungen hinzu. Autoimmunerkrankungen haben Frauen viel häufiger als Männer und genauso auch rheumatische Erkrankungen. Wenn diese genannten Risikofaktoren vorliegen, steigt das Risiko, im Laufe des Lebens einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden, auf das Doppelte.   

Was ist die schwerwiegendste Fehldiagnose, die Ihnen begegnet ist? 

Aus der Frauensprechstunde am Herzzentrum Leipzig kann ich von Frauen berichten, die zum Psychiater geschickt und nicht ernst genommen wurden. Ich hatte eine junge Krankenschwester als Patientin: sie wies jahrelange pectanginöse Beschwerden. Diese waren allerdings nicht sehr ausgeprägt mit leichterem Druck in der Brust. Und diese Patientin wurde zum Psychiater geschickt. Sie hat vor einigen Jahren  einen schweren Herzinfarkt erlitten. Diese Patientin hatte mehrfach Schwangerschaftskomplikationen und weitere Risikofaktoren. Die Einordnung der Symptome kann vielschichtig und kompliziert sein. Sie erfordert Zeit und die richtige Auswahl der Diagnostik. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Frauen unter anderem deshalb später zur entsprechenden Diagnostik gelangen.

Wie ist die Datenlage?  

Frauen erleiden viel seltener einen Herzinfarkt. Aber wenn sie einen bekommen, sterben sie viel häufiger. Etwa ein Drittel der Patient:innen mit Herzkranzgefäßerkrankungen sind Frauen. Nach dem neuesten Deutschen Herzbericht (Update Oktober 2024) ist die Sterblichkeit bei Männern und Frauen gesunken: Bei Männern um 26% und bei Frauen um 34%. Das heißt, die Sterblichkeit der Frauen ist etwa 1,7 -1,8 erhöht im Vergleich zu den Männern – das ist Fakt. Diese Verbesserung erklärt sich aus dem Konglomerat an positiven Veränderungen. Dem Thema wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt, generell werden Patientinnen schneller behandelt und es gibt bessere Medikamente.

Wie sieht es generell mit Medikamenten und der Dosierung bei Männern und Frauen aus?

Die Arzneimitteltherapie ist auch ein ganz großes Thema. Es gibt bei vielen Medikamenten eine Standard-Dosierung, die für alle gilt. Das bedeutet aber nicht nur, dass wir unter Umständen eine stärkere Wirkung erzielen, sondern auch stärkere Nebenwirkungen riskieren. Frauen sind tendenziell körperlich etwas kleiner und haben eine andere körperliche Zusammensetzung. Männer haben mehr Muskulatur, Frauen haben mehr Fett und Wasser. Das kann dazu führen, dass Medikamente unter Umständen anders aufgenommen und möglicherweise länger gespeichert werden. Dazu kommt außerdem der Monatszyklus der Frauen und die hormonellen Phasen, die auch auf Medikamente einen Einfluss haben können.  

Also gibt es keine auf Frauen und ihre Beschwerden ausgerichtete Medikamente?

Nein, wenn man von den rein gynäkologischen Indikationen absieht. Wir wissen, dass bei vielen Medikamenten die Wirkung und damit auch die Nebenwirkungsquote höher sein kann, also beispielsweise bei den Herzmedikamenten. In den Leitlinien sind Frauen bislang überhaupt nicht erwähnt. Da gibt es eben die eine Standarddosis für alle.  

Ist es realistisch, dass es irgendwann gut erforschte "Frauen-Medikamente" gibt, die die verschiedenen hormonellen Phasen berücksichtigen?  

Sie sprechen mit Ihrer Frage die Pharmaindustrie an. Viele Medikamente wurden jahrelang ausschließlich an männlichen Probanden und Versuchstieren getestet. Dafür gibt es einige gute Gründe: Erstens dürfen Frauen innerhalb einer Studie nicht schwanger sein oder werden, ihre Nachfahren sollen ja keinesfalls geschädigt werden. Zweitens reagieren Frauen auf bestimmte Medikamente innerhalb der verschiedenen Zyklusphasen ganz unterschiedlich. Auch die Magen-Darm-Passage ist abhängig von der Zyklusphase – das kann schneller oder langsamer gehen, – und beeinflusst dann unter Umständen die Wirkung und Nebenwirkung eines Medikamentes. Das macht es komplizier und teuer.  Es ist dadurch sehr aufwändig und möglicherweise fallen dadurch Frauen aus einer Studie wieder raus.  

Die Europäische Arzneimittelagentur EMA empfiehlt den Pharma-Firmen seit einigen Jahren den Einschluss beider Geschlechter in Studien. Bislang ist es eben nur eine Empfehlung.

Was muss sich verändern, damit Medizin und Forschung auch dem weiblichen Körper gerecht werden?  

Also erstens prinzipiell beim gesamten medizinischen Personal Aufmerksamkeit für die Thematik zu schaffen. In der Ausbildung ist es tatsächlich seit etwa zehn Jahren  an allen großen deutschen Universitäten beinhaltet. Aber es geht ja darum, dass die Pflegekräfte sensibilisiert werden und eigentlich alle, die in der Medizin arbeiten. Es betrifft die Allgemeinmediziner ganz stark, aber die sind natürlich viel beschäftigt. Viele sensible und wirklich aufmerksame ärztliche Kollegen nehmen das direkt oder indirekt sowieso wahr.  

Zweitens ist es ein politisches Thema. Hier geht es um die Erkennung und Beachtung der geschlechtsspezifischen Unterschiede, damit vor allem FRAU (und natürlich auch der Mann) eine adäquate Behandlung erhält. Ein häufiges Argument ist, dass die Standarduntersuchung durchgeführt wurde, sich dabei nichts ergeben hat, also die Patientin nichts hat. Das stimmt nicht ganz und ist sehr unfair. 

Was können Frauen tun, um die beste medizinische Behandlung für sich zu erhalten?  

Wenn man zum Arzt muss, kann man zum Beispiel prüfen, ob eine Kollegin oder ein Kollege die Zusatzbezeichnung "Gendermedizin" hat. Oder man kann die Kollegen fragen, ob sie gegenüber diesem Thema offen sind. Über die Medien lassen sich vielfältige Informationen generieren. Die Betriebsärzte sind inzwischen sehr sensibilisiert und beschäftigen sich zunehmend mit dem Thema. Die künstliche Intelligenz wird helfen, den Geschlechterunterschied in der Medizin zu verringern.