Gewaltambulanz: "Wir können zwar nicht heilen, aber herausfinden, was passiert ist."
Ihr Verdienst: Die Gewaltambulanz, die immer offen ist Was sie macht: Ganz genau hinschauen Ihr Credo: Wir müssen schnell sein!

Ihr Verdienst: Die Gewaltambulanz, die immer offen ist
Was sie macht: Ganz genau hinschauen
Ihr Credo: Wir müssen schnell sein!
Trigger-Warnung: Häusliche Gewalt
Kathrin Yen sieht Dinge, die andere nicht sofort wahrnehmen. Den blauen Fleck etwa hinter dem Ohr, wahrscheinlich von einer Ohrfeige. Oder die geplatzten Äderchen in den Augen: Stauungsblutungen und möglicherweise ein Hinweis auf vorangegangenes Würgen..
Die 55-Jährige ist Leiterin der Rechtsmedizin an der Uniklinik Heidelberg und dafür geschult, gewaltbedingte Verletzungen zu erkennen. Die Spurensicherung, die sie vornimmt, ist notwendig, um Beweise für eine Gewalttat zu sichern. In einem Gerichtsprozess kann das für die Opfer lebensrettend sein, weil diese Beweise ausreichen können, um einen Täter zu verurteilen und damit noch Schlimmeres zu verhindern. Aber all das ist nur möglich, wenn zwischen einer Tat und ihrer Dokumentation nur wenig Zeit vergeht. Geplatzte Äderchen in den Augen verschwinden oft nach ein paar Stunden. Und eine einzige Dusche kann DNA-Spuren des Täters auf der Haut des Opfers vernichten.
2011 gründete Kathrin Yen deshalb die Gewaltambulanz in Heidelberg. Für sie ein sehr dringender Schritt: Denn neben der Gewaltambulanz an der Uniklinik Eppendorf (UKE) in Hamburg war sie damals die einzige rechtsmedizinische Anlaufstelle für Gewaltopfer. Sie können hier verfahrensunabhängig, das heißt ohne Einbeziehung von Polizei und Justiz, ihre Verletzungen untersuchen lassen. Inzwischen gibt es landesweit etwa 35 Gewaltambulanzen, aber nicht alle sind wie in Heidelberg 24 Stunden am Tag erreichbar: "Jedes Gewaltopfer in Deutschland müsste innerhalb von einer Stunde eine fachqualifizierte Einrichtung aufsuchen können", sagt Yen im Videocall, davon sei man weit entfernt.
Egal wo, es muss schnell gehen
In Heidelberg und Umgebung klappt diese Versorgung inzwischen. Dabei unterstützen mobile Teams die Ambulanz. Wenn wir einen Anruf aus einer Klinik oder vom Jugendamt bekommen, fahren wir sofort los, auch in entlegene Dörfer." Mit einem Fahrzeug, in dem alles Nötige für Untersuchungen und Spurensicherung vorhanden ist. Inzwischen, erzählt Yen, benutze sie immer häufiger die Telemedizin. Die ist vor allem hilfreich, wenn misshandelte Kinder in einer Klinik landen: Die Behandelnden tragen eine Datenbrille – "und ich kann mit deren Augen die Untersuchung am Rechner verfolgen und sagen: 'Schauen Sie bitte mal hinter den Ohren. Oder machen Sie dort einen Abstrich.'"
2023 haben rund 750 Menschen die Heidelberger Gewaltambulanz aufgesucht, die meisten davon Frauen und Kinder, meist nach sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt. Ihre Verletzungen? Blaue Flecken, Kopfwunden, Bisse, Knochenbrüche, Messerstiche, innere Blutungen, Verbrennungen …
Die Arbeit ist belastend. Auch für Yen. Doch sie strahlt diese Festigkeit und Klarheit aus, die vielen Menschen eigen ist, wenn sie wissen, dass sie etwas Notwendiges tun: "Wir Rechtsmediziner können zwar nicht heilen, aber wir können herausfinden, was passiert ist."
Diese Mischung aus Medizin und Aufklärung hat Yen, die in Österreich geboren wurde, schon als Jugendliche fasziniert: In der örtlichen Bibliothek las sie gerne im "Archiv für Kriminologie", so heißt die älteste kriminologische Zeitschrift der Welt. Später studierte sie Allgemeinmedizin in Innsbruck und Rechtsmedizin in Frankfurt und Bern.
Die Grenzen der Rechtsmedizin
Rechtsmedizin – da denken die meisten an Leichen, die geöffnet werden, um Mordfälle aufzuklären. Das mache sie auch, sagt Yen. Aber viel wichtiger ist für sie inzwischen die Aufklärung bei lebenden Gewaltopfern. Sie und ihr Team – zehn Ärzt:innen, zwei Radiologinnen, zwei Toxikologen, eine Molekularbiologin – leisten wichtige Präventionsarbeit.
Doch auch das hat Grenzen. Es gibt misshandelte Frauen, die nach der Beweissicherung wieder zu ihren gewalttätigen Partnern zurückkehren, denn eine Anzeigepflicht gibt es in Deutschland nicht. Um den Kontakt zu den Frauen nicht zu verlieren, arbeitet die Gewaltambulanz in Heidelberg mit sogenannten Lotsinnen zusammen, die die Betroffenen zu Hause aufsuchen und bei Bedarf zu Beratungsstellen begleiten.
Denn: Viele Opfer schämen sich. Kathrin Yen und ihr Team versuchen auch, ihnen etwas von ihrer Würde zurückzugeben. "Wer Gewalt erfährt, erlebt große Ohnmacht", sagt sie. "Da kann es schon etwas Heilsames haben, wenn wir das, was geschehen ist, sehen, festhalten – und es damit nicht mehr infrage steht."