Gemischte Gefühle: Warum ich trotzdem zum Krebsscreening gehe

Die Hälfte der Todesfälle bei Krebs könnte verhindert werden, heißt es. Die große Mehrheit der Deutschen findet Früherkennungsprogramme auch sinnvoll. Aber nur ein Teil nimmt sie tatsächlich wahr. Aus Bequemlichkeit? Angst? Dem Gefühl der Machtlosigkeit? Unsere Autorin macht sich ihre Gedanken.  

Mar 1, 2025 - 12:04
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Gemischte Gefühle: Warum ich trotzdem zum Krebsscreening gehe

Die Hälfte der Todesfälle bei Krebs könnte verhindert werden, heißt es. Die große Mehrheit der Deutschen findet Früherkennungsprogramme auch sinnvoll. Aber nur ein Teil nimmt sie tatsächlich wahr. Aus Bequemlichkeit? Angst? Dem Gefühl der Machtlosigkeit? Unsere Autorin macht sich ihre Gedanken.
 

Mit dem noch ungeöffneten Briefumschlag in der Hand überkommt mich plötzlich ein mulmiger Gedanke: 'Was, wenn da etwas ist?' Vor ein paar Tagen war ich bei der Mammographie. Kein schöner Termin, wirklich nicht. Sogar ziemlich schmerzhaft, wenn die Brüste kurz zwischen zwei Glasplatten eingequetscht werden, um möglichst aussagefähige Röntgenbilder zu bekommen. Dennoch habe ich nicht gezögert, das Angebot zum Screeningprogramm wahrzunehmen. Jede Frau in Deutschland, die 50 wird, erhält alle zwei Jahre eine Einladung.

Aber als ich den Brief mit dem Ergebnis öffnen will, kann ich ein kurzes Aufflackern von Angst doch nicht abschütteln. Ich kenne persönlich eine ganze Reihe von Frauen mit der Diagnose Brustkrebs. Die haben bestimmt auch gedacht, es würde sie schon nicht betreffen. Krebs ist eine grausame Krankheit – vor keiner ist die Furcht so groß. Weil sie gefühlt hinter jeder Ecke lauert und nach der Diagnose nichts mehr so ist wie zuvor. Und weil die Behandlung immer auch Schaden anrichtet.

Was ist schlimmer, Diagnose oder Therapie?

Die Chemotherapie, zum Beispiel. Nur etwa bei 30 bis 40 Prozent der Behandelten schlägt sie überhaupt an. Die Zellen, auch die gesunden, greift sie aber zu 100 Prozent an. Deshalb wissen wir von schweren Nebenwirkungen, wie Übelkeit, Haarverlust, Organschäden. Die allermeisten Betroffenen nehmen das in Kauf, weil die Hoffnung auf Heilung überwiegt. Trotzdem würden sie sich wohl wünschen, es wäre gar nicht erst so weit gekommen.

Das führt mich wieder zur Krebsvorsorge, genauer gesagt, zur Früherkennung. Denn mit der Teilnahme an einem Screeningprogramm beugen wir einer Erkrankung nicht wirklich vor. Im Idealfall wird sie jedoch so rechtzeitig entdeckt, dass sie noch gut behandel- und sogar heilbar ist. Indem nämlich Frühstufen erkannt werden, bevor sie bösartig werden. Fachleute unterscheiden deshalb in Primär- und Sekundärprävention. Vorsorgend wirken ein gesundheitsbewusster Lebensstil oder Impfungen, deshalb heißt es Primärprävention. Screenings zählen als Früherkennungsmaßnahme zur Sekundärprävention.

Die Krebsentstehung gehört zum Leben dazu

"Krebs ist ein Teil von uns, ein Teil unserer Zellen", erklärt mir Dr. Hanna Heikenwälder. Die Molekularbiologin und Krebsforscherin hat das Buch "Krebs – Das Ende einer Angst" (Mosaik 2025, 400 Seiten, 24 Euro) geschrieben. "Krebsvorstufen haben wir alle in uns", sagt sie. Inwiefern mir das die Angst nehmen soll, verstehe ich erst, als sie mir mehr über diese komplexe Krankheit erzählt:

"Dass Zellen ständig genetisch mutieren, ist völlig normal. Dafür haben wir aber auch Reparaturmechanismen. Erst wenn das Immunsystem mit dem Entdecken, Identifizieren, Bekämpfen und Aufräumen nicht mehr hinterherkommt oder wenn in der Funktion etwas mutiert, kann Krebs entstehen." Den Vorgang der Krebsentstehung könne man nicht verhindern, aber jede Krebserkrankung habe ein Stadium, in dem man sie erkennen und behandeln könne, so die Wissenschaftlerin. 

In gewisser Weise ist Prävention eine neue Form der Krebstherapie – und zwar die einzig rechtzeitige.

Das unterstreicht Dr. Hanna Heikenwälder in ihrem Buch mit eindrucksvollen Zahlen: "Ein Großteil aller Krebsfälle sind vermeidbar. Viele Millionen Menschenleben können jährlich gerettet werden, wenn es uns gelingt, über Krebs aufzuklären und eine sinnvolle Präventionsstrategie zu entwickeln." Sie spricht von etwa 50–70 Prozent aller Krebserkrankungen, also mindestens fünf Millionen Todesfällen im Jahr, die verhindert werden könnten, wenn der aktuelle Wissensstand der Forschung richtig umgesetzt würde. Krass – vor allem, weil die Statistik zeigt, dass diese Krankheit jede und jeden Zweiten von uns mindestens einmal im Leben treffen wird. 

Prävention: Theoretisch wichtig, praktisch nicht so

Bislang existieren allerdings nur für vier Krebsarten flächendeckende Früherkennungsprogramme: Haut-, Brust-, Darm- und Gebärmutterhalskrebs. Könnten oder müssten es nicht viel mehr sein? Ich frage nach bei Prof. Dr. Rita K. Schmutzler. Die Direktorin des Zentrums Familiärer Brust- und Eierstockkrebs am Uniklinikum Köln war lange Mitglied des Fachausschusses Krebs-Prävention und -Früherkennung der Deutschen Krebshilfe. "Wir bieten nur die Früherkennungsprogramme an, von denen wir wissen, dass wir im Falle eines Befundes auch etwas tun können und die Erkrankung damit verhindern oder die Prognose der Erkrankung verbessern können", erklärt sie. Das heißt, es gibt für diese Krebsarten nichtinvasive Verfahren, um Vorstufen oder Zellveränderungen nicht nur sicher zu erkennen, sondern das Gewebe dann zum Beispiel auch entfernen zu können. 

„Das Darmkrebs-Screening ist da ein perfektes Beispiel. Da kann man überhaupt nichts falsch machen, das lohnt sich immer“ findet Hanna Heikenwälder. Gerade habe ich in einer Pressemitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrums gelesen, dass "durch eine einmalige Darmspiegelung drei von vier der innerhalb von zehn Jahren zu erwartenden Darmkrebsfälle entweder früh erkannt oder gar gänzlich verhütet werden können". Das habe eine Neubewertung vorliegender Studiendaten ergeben.  

"Eine wichtige Herausforderung stellt noch der Prostatakrebs dar, denn hier stehen noch keine ausreichend sicheren und effektiven Früherkennungsuntersuchungen zur Verfügung. Die seit langem angebotene Untersuchung des Tumormarkers PSA ist leider nicht spezifisch genug und führt daher häufig zu Überdiagnosen mit nachfolgenden unnötigen Maßnahmen" erläutert Prof. Schmutzler und ordnet ein: "Diese vier Screeningprogramme decken 40 Prozent des Risikos ab." Immerhin, denke ich, das ist viel besser als nichts. Dann habe ich an allen verfügbaren Angeboten schon teilgenommen – mangels Prostata fällt dieses eine Screening bei Frauen ja ohnehin weg. 

Aber offenbar bin ich da eher die Ausnahme. Laut einer MSD-Umfrage halten zwar fast 90 Prozent der Menschen in Deutschland die regelmäßigen Krebsscreenings für wichtig. Doch wesentlich weniger, nämlich 47,7 Prozent der Frauen und sogar nur 24,1 Prozent der Männer nehmen die Termine tatsächlich wahr. Was hält sie davon ab?

Warum klaffen Haltung und Handeln so auseinander? 

Die oben erwähnte Umfrage nennt organisatorische und emotionale Barrieren als Gründe. Zum einen kostet es erhebliche Mühe, überhaupt an einen Termin zu kommen, jedenfalls als gesetzlich Versicherte. Für das Hautkrebs-Screening, das ich ebenfalls gerade hinter mich gebracht habe, musste ich unzählige Praxen abtelefonieren, bis ich eine in einem abgelegenen Stadtteil fand, die tatsächlich neue Patient:innen aufnahm und mit der Kasse abrechnete. Dermatologie ist zu einem Privatvergnügen geworden, schließe ich aus meiner nicht repräsentativen Recherche. Diese Mühe macht man sich meist nur, wenn da eine Stelle "irgendwie komisch aussieht", also ein gewisser Leidensdruck besteht.

Und was das Emotionale angeht, da spielt das bekannte Vogel-Strauß-Prinzip eine Rolle: die Neigung, den Kopf in den Sand zu stecken. Wie ein Kind, das beim Verstecken die Augen zuhält und glaubt, wenn es selbst nicht sehen kann, ist es auch nicht zu finden. Funktioniert nicht, wissen wir alle. Aber es fällt so viel leichter wegzuschauen und sich zu sagen "Es wird schon nichts sein!", als sich aktiv um einen Termin zu bemühen, der genau das ausschließen soll.

Bei mir ist dieser blinde Fleck das Thema Darmkrebs. Bislang habe ich mich nur zu einem Stuhltest auf verborgenes Blut durchringen können. Eine Darmspiegelung, die Frauen jetzt ebenfalls bereits ab 50 zusteht, ist da weit aufwändiger. Mir geht es gar nicht mal um die Vorstellung vom Schlauch im Po. Das ist zwar nicht angenehm, aber aushaltbar. Zur Not kann man sich dafür in einen leichten Dämmerschlaf versetzen lassen. Ich kenne die (unbetäubte) Prozedur, weil ich vor vielen Jahren eine heftige Darminfektion aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Aber das Abführen! Dieser komplette Akt aus reiner Vorsicht? Ich kann verstehen, sich davor drücken zu wollen. Heißt aber auch: Da bietet man mir die Möglichkeit, nicht lebensbedrohlich zu erkranken, und ich greife nicht zu? Über meine Bequemlichkeit ärgere ich mich schon, wenn ich ganz ehrlich zu mir bin.

Vor allem, seit mir Prof. Rita Schmutzler erklärte, dass die Screening-Programme nur genauer werden können, desto größer die Zahl der eingesammelten Daten ist. Je mehr Menschen das Angebot annehmen, umso sicherer werden die Diagnosen. Indem ich hingehe, leiste ich also direkt einen Beitrag zu einer immer besser werdenden Versorgung.

Hürden senken, Angebot verbessern 

"Unsere Aufgabe ist es, die Maßnahmen mundgerechter zu machen", findet Prof. Schmutzler. "Warum gibt es keine Präventionszentren, in denen alles in einer Hand liegt?", fragt sie. In Heidelberg befindet sich ein erstes Pilotprojekt dieser Art in Bau, bei dem interdisziplinär eine zunehmend personalisierte Krebsprävention ausgebaut werden soll. Mit moderner Präventionsforschung, einer Präventionsambulanz – zum Beispiel für Teilnehmende an Präventionsstudien – und einem Informationszentrum für Gesunde.

Ein weiteres Ziel muss sein, die Krebsprävention individueller und passgenauer zu machen, damit sie besser und akzeptabler wird. Noch ist die personalisierte Medizin sehr teuer und wird bislang nur in Ausnahmefällen eingesetzt. Hier wird in den nächsten Jahren viel passieren – vor allem in der Immuntherapie. Aber es wäre ja schon hilfreich, Personen mit einem hohen Risiko herauszufiltern, damit diese ein engmaschigeres Betreuungsangebot bekommen. Zu den klassischen Risikofaktoren zählen neben familiärer Veranlagung zum Beispiel Übergewicht, Rauchen oder Bewegungsmangel. Personen mit geringem Risiko bräuchten dafür seltener gescreent zu werden. So ließen sich Kosten sparen und Ressourcen im Gesundheitswesen intelligenter verteilen.

Bislang haben wir ein solches System nur für Menschen mit genetischer Vorbelastung. Darüber hinaus übernimmt die hausärztliche Praxis eine Art Lotsenfunktion, die eventuell an Termine erinnert. “Aber um die Untersuchungstermine beim Facharzt muss man sich dann wieder selbst kümmern. Da springen viele wieder ab“, so Prof. Schmutzler. Kann ich bestätigen. Ohne diese auffällige Hautstelle, wegen der mir mein Freund auch schon in den Ohren gelegen hatte, wäre ich nicht so hartnäckig am Ball geblieben, mir einen Termin zu besorgen. Vorbildlich bequem dagegen der Mammographie-Termin, der kam ungefragt mit der Post ins Haus geflattert.

Zu tun, was ich kann, gibt mir ein gutes Gefühl

Beide Expertinnen betonen, dass echte Vorsorge beides brauche, Primär- und Sekundärprävention. "Mutationen sind die Samen der Erkrankung, aber der Lebensstil ist das Substrat, in dem sie wachsen und gedeihen", meint Dr. Heikenwälder dazu. Doch da lauert die nächste Fallgrube. Es ist ja alles hinlänglich bekannt, auf der Webseite der Nationalen Dekade gegen Krebs sind sogar Zahlen nachzulesen: “Der mit Abstand größte Krebsrisikofaktor ist der Tabakkonsum – er ist verantwortlich für rund 20 Prozent aller Krebserkrankungen, gefolgt von ungesunden Ernährungsgewohnheiten (rund 8 Prozent), Übergewicht (rund 7 Prozent) und Bewegungsmangel (rund 6 Prozent).“

Das große Aber: Auch fit wirkende, gesund lebende Menschen können Krebs bekommen. Andere wiederum werden trotz mehrerer Laster uralt. Und manchmal entstehen Tumore in einem Alter, bevor die Screeningprogramme überhaupt greifen. Man könnte also denken, es wäre alles ohnehin Schicksal und daher im Prinzip egal, was man tue und wie sehr man sich anstrenge. 

Es stimmt, eine Garantie wird es nicht geben und das kann man ungerecht finden. Aber ein solches Versprechen wäre ohnehin nicht mein Leitstern, meine Motivation. Ebenso wenig wie Angst, übrigens. Also tue ich, was ich kann. Dazu zählen auch die bislang verfügbaren Früherkennungsmaßnahmen. Sind sie perfekt? Vielleicht nicht immer. Aber ein ziemlich gutes Angebot.

Nach meinem kurzen Zögern öffne ich schließlich den Brief vom Mammographie-Screeningzentrum. 'Was, wenn etwas ist?' Das werde ich dann sehen. Es nicht zu wissen ist für mich jedenfalls keine Option, stelle ich fest. Dann lieber Bescheid wissen und den Kampf aufnehmen. Nichts (mehr) tun zu können, fänd' ich schlimmer.

P.S.: Befund unauffällig, alles in Ordnung!